Wertewandel

Der technologische Fortschritt hat den Menschen eine enorme, noch nie dagewesene Macht verliehen. Diese Macht verantwortungsvoll anzuwenden, ohne die ökologischen und gesellschaftlichen Grundlagen unseres Lebens zu zerstören, erfordert einen tiefgreifenden Wertewandel. Wir sind gefordert, die gesamte Menschheit und alles Lebendige auf dem Planeten, den wir bewohnen, in unser Denken und Fühlen einzubeziehen.

Institutionelle Veränderungen wie eine Transformation der Eigentumsrechte und -pflichten und des Geldwesens, die Einführung eines Gemeinwohldienstes, der der unfreiwilligen Erwerbslosigkeit ein Ende bereitet, die Etablierung eines Indikators für Lebensfülle als Hauptmaßstab der Wirtschaftsleistung und die Anwendung verbesserter demokratischer Verfahren sind nur möglich, wenn sich unsere Werte verändern. Umgekehrt sind institutionelle Veränderungen notwendig, um den Wertewandel zu unterstützen. Institutionelle Veränderungen und Wertewandel, „äußere“ und „innere“Veränderung, gehen deshalb Hand in Hand; sie sollten nie gegeneinander ausgespielt werden.

Dieser Wertewandel muss sich innerhalb der Lebenszeit der meisten heute lebenden Menschen vollziehen, denn ohne eine Kehrtwende werden katastrophaler Klimawandel und Artenverlust schon bald einsetzen. Das heißt, Wertewandel muss so schnell passieren, wie er noch nie in der Menschheitsgeschichte erfolgt ist, auf dem gesamten Planeten. Natürlich ist die gesamte Menschheit durch Kommunikationstechnologien heute sehr viel enger miteinander vernetzt, als sie es jemals war, doch erfordert Wertewandel meist recht viel Zeit. Es ist nicht leicht, überkommene Muster des Denkens und Fühlens (oder des Gefühle-Unterdrückens) zu überwinden und neue Muster einzuüben. Deshalb weiß ich nicht, ob der Wertewandel rechtzeitig erfolgen wird.

Derzeit scheint auf politischer Ebene eher das Gegenteil zu passieren. Millionen von Menschen sind bereit, in Nibelungentreue Fratzen einer primitiven Männlichkeit in den Abgrund zu folgen. Vielleicht ist dies aber ein letztes Aufbäumen einer todgeweihten Kultur. Vor einigen Jahrzehnten hatten die Konservativen noch ernstzunehmende Argumente; sie konnten intellektuell mithalten mit den Menschen, die aufzeigten, welcher gesellschaftlicher Wandel notwendig ist. Nun gehen ihnen die Argumente aus, und es bleibt ihnen nur noch die Verunglimpfung des politischen Gegners als Feind, und die Missachtung demokratischer Gepflogenheiten. Dies klappt nur auf der alleruntersten Ebene der Argumentation, der Lüge, der Verweigerung, dem Anderen zuzuhören (wenn man ihn nicht gleich mundtot macht), und der Verherrlichung überkommener Auffassungen der Stärke und Männlichkeit.

Wir brauchen stattdessen eine starke Weiblichkeit, geprägt von Tugenden, die meist bei Frauen stärker ausgeprägt sind als bei Männern, die von Frauen gefordert werden oder die sie notgedrungen entwickeln müssen, die aber bei Männern unterdrückt werden, wegen derer Frauen als schwach und wegen derer Abwesenheit Männer als stark und mächtig gesehen werden, wegen derer Frauen oft allzu leicht ausgebeutet werden können. Ohne eine sehr viel stärkere Ausbildung und Wertschätzung dieser Tugenden – bei allen Menschen – wird unsere Zivilisation zugrunde gehen.

Welches sind diese weiblichen Tugenden? Zu ihnen gehören die Fähigkeiten,

  • sich in andere Menschen und Lebewesen einzufühlen, und sich deswegen um sie zu kümmern,
  • anderen Menschen lange genug zuzuhören, um sie wirklich zu verstehen, selbst wenn deren Ansichten dem eigenen Standpunkt widersprechen, und Lösungen zu suchen, die den Bedürfnissen dieser anderen Menschen gerecht werden,
  • die eigene Schwäche, Furcht, Angst, Trauer und andere schwierigen Gefühle auszuhalten und Lösungen zu finden, statt diese Gefühle mit gespielter Stärke abzuwürgen und zu versuchen, die Probleme auf andere abzuschieben,
  • sich im vollen Bewusstsein der eigenen Beschränkungen für ein Ziel einzusetzen, selbst wenn dieses Ziel schwer zu erreichen ist und kein Reichtum, Macht oder Ruhm winkt, falls es erreicht werden sollte.

Diese Art von Willensstärke, von Mut, von Einfühlungsvermögen, brauchen wir, um das nächste Stadium der Zivilisation zu erreichen. Männer sollten sich ein Beispiel nehmen an Frauen, die solche Tugenden an den Tag legen. Männer können diese Tugenden natürlich in sich selbst finden, denn in jedem Mann gibt es weibliche Qualitäten und in jeder Frau gibt es männliche Qualitäten. C. G. Jung nannte den weiblichen Aspekt eines Mannes dessen Anima, den männlichen Aspekt einer Frau deren Animus. Zur vollen Entwicklung jedes Menschen gehört, auch diese „gegengeschlechtlichen“ Qualitäten zu entwickeln.

Von Frauen im Geschäftsleben, in Politik, in Führungspositionen wird erwartet, dass sie ihre männlichen Qualitäten entwickeln, dass sie sich durchsetzen, nicht zu empfindlich sind, ihren Mann stehen. Auch visuell, in ihrer Kleidung, sollen sie sich Männern angleichen, zum Beispiel durch Frauenanzüge. Denn es ist immer noch ein Statusgewinn, wie ein Mann zu sein statt wie eine Frau. Und leider wird von Frauen in solchen Positionen erwartet, ihre „weiblichen“ Seiten zu unterdrücken.

Es ist Zeit, den Spieß umzudrehen. Männer sollen sich Frauen angleichen, ihre weiblichen Qualitäten entwickeln – gerade und besonders, wenn sie in Führungspositionen stehen! Ein Mann (oder eine Frau) ohne Empathie, ohne das Vermögen, aufmerksam zuzuhören, der zu sehr auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und die Bedürfnisse anderer vernachlässigt, sollte für keine Führungsrolle infrage kommen. Institutionelle Strukturen sollten so gestaltet werden, dass einfühlsame, rücksichtsvolle, intelligente Menschen, die sich um das Wohl aller Menschen und Lebewesen kümmern, in Führungspositionen steigen. Jene Menschen, bei denen diese Fähigkeiten unterentwickelt sind, dürfen im Sinne des Wohles der Organisation nicht in Führungspositionen steigen, sollen aber im Bestreben unterstützt werden, sich weiterzuentwickeln.

Um die jetzige zivilisatorische Krise zu meistern, müssen wir unsere Institutionen so gestalten, dass die Menschen in verantwortliche Positionen aufsteigen, die bereit und fähig sind, für die Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere Menschen und Lebewesen Verantwortung zu übernehmen, und die ihre weiblichen und männlichen Qualitäten in ausgewogenem Maße entwickelt haben. So können sich Werte und Institutionen im Einklang miteinander wandeln.

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