Stille

Das Mural „Silence“, die Stadt (Mannheim) und das Glück der Vielfalt

 

Ich habe mich im letzten Jahr entschlossen, bei den Kommunalwahlen in Mannheim im Juni dieses Jahres für Bündnis 90/Die Grünen zu kandidieren. Ich freue mich, dass die Grünen mich gewählt haben, auf dem Listenplatz 17 für den Gemeinderat zu kandidieren.

Um interessierten Wählis meine Standpunkte und Sichtweisen besser darstellen zu können, gebe ich meinem Blog einen Neustart. (Zu der -i-Endung von Wähli, siehe den Beitrag „Aus halbfremden Augen“.)

Bevor ich aber einen neuen Blog-Eintrag verfasste, wollte ich ein neues Header-Bild für meine Webseite aussuchen. Bisher war da ein Bild von Wolken, die bei Sonnenaufgang rosafarben leuchten. Aber ich wollte jetzt ein Foto, das etwas darstellt, das für mich in Mannheim schätzenswert ist. Ich schaute mir dazu Fotos an, die ich letzten März auf einem Streifzug durch die Stadt gemacht hatte. Das Foto, das mir am meisten gefiel, habe ich im Header verwendet. Hier das komplette Foto:

 

Es ist eins der Murals des Mannheimer Projekts Stadt Wand Kunst – einem Projekt, in dem jedes Jahr neue Murals entstehen an Mannheimer Fassaden. Es sind interessante Kunstwerke, die dem Besuchi schon im Hauptbahnhof begegnen, und immer wieder an verschiedenen Stellen in der Stadt zum Denken oder zum erneuten Schauen anregen. Ich betrachte es als ein gelungenes multikulturelles Projekt, da Werke von Künstlis aus vielen verschiedenen Hintergründen dabei sind. Außerdem ist es inklusiv, da jeder Mensch, der in der Stadt unterwegs ist, diese Kunstwerke anschauen kann. Das Projekt ist für mich ein Sinnbild dessen, was eine Stadt sein kann und soll: ein Ort, wo Menschen vieler verschiedener Herkünfte aufeinander treffen, miteinander ins Gespräch kommen, neue Ideen entwickeln, Neues schaffen, sich gegenseitig bereichern. Solche Orte der Begegnung waren Städte schon seit den allerersten Städten der Menschheit. Dies, und nicht die Bevölkerungszahl, unterscheidet eine Stadt von einem Dorf. Ich freue mich in Mannheim zu leben, das in diesem Sinne Stadt ist, wo ich um mich her viele Sprachen höre, nicht nur eine.

Aber zurück zum Bild. Was macht diese Frau mit der Glocke, eingezwängt unter dem Hausdach in O4? Wozu regt sie uns an mit dem Wort „Silence“ an der verkehrsreichen Kunststraße, wo man selten der dem Verklingen eines Glockenschlags folgenden Stille lauschen kann? Was will sie uns sagen, dort wo sie steht, über Bücher Bender und direkt gegenüber vom erotic store?

Jede Betrachti kann zu eigenen Antworten kommen – das liegt in der Natur jedes Kunstwerks. Doch setzen wir uns auch mit den Künstlis auseinander, die das Werk geschaffen haben! Geschaffen wurde es, wie mehrere weitere Murals in Mannheim auch, von dem in Mannheim lebenden Duo Sourati. Dies sind Mehrdad Zaeri, der aus Isfahan stammt, und Christina Laube, eine deutsche Fotografin, Autorin und Buchillustratorin. Zaeri flüchtete mit seiner Familie aus Khomeinis Iran nach Deutschland, arbeitete einige Zeit in Heidelberg als Taxifahrer und wurde schließlich Künstler. Die beiden haben noch viele andere Werke geschaffen, zum Beispiel Imagine in Amman, Jordanien, mit Unterstützung des Projekts Stadt Wand Kunst. Dieses Werk ermutigt Frauen, zu träumen und nicht zu verzagen. Im Jahr 2022 haben sie zusammen eine Installation in Göppingen geschaffen, „Dedicated to Tati“, gewidmet ihrer Freundin Tatiana, wie sie ihnen als Augenzeugin über den Angriff Russlands auf Kiew berichtet hatte.

Sind Souratis Bilder nicht beeindruckende Beispiele dafür, was der Austausch über Grenzen alles für uns tun kann? Welche Bereicherung es ist, wenn Menschen aus fernen Ländern zusammen kommen?

Ich finde es einerseits unendlich traurig, dass Menschen wie Mehrdad Zaeri aus dem Iran fliehen mussten, weil der Iran schon so lange unter dem Regime von erzkonservativen Klerikern leidet (und zuvor unter dem mörderischen und unterdrückerischen Regime des Schahs). Im Iran gibt es unzählige kreative Menschen, von denen manche trotz aller Unterdrückung Bücher schreiben, Filme machen und sich anderweitig für ihre Freiheit engagieren. Zum Beispiel die zum Tode verurteilte lesbische Aktivistin Sareh Sedighi-Hamadani, die vorigen Monat nach Deutschland ausreisen durfte. Im Iran scheuten sich viele Tausende Menschen nicht, seit dem September 2022 trotz drakonischer Vergeltungsaktionen auf die Straße zu gehen für Frau, Leben, Freiheit. Im Jahr 2009 gingen massenweise Menschen auf die Straßen als Teil der „Grünen Bewegung“ um Hossein Mussawi, und forderten freie Wahlen und Bürgerrechte. Dies sind nur ein paar Beispiele des Widerstands. Der Iran ist zudem die Heimat verschiedener religiöser Traditionen, wie zum Beispiel des Zoroastrismus, der Bahá’i-Religion und der Mystik der Sufis, die durch die jetzige Regierung unterdrückt werden. Welch eine Bereicherung wäre es doch, nicht nur für den Iran, sondern für die ganze Welt, wenn all diese Menschen sich in Freiheit ausdrücken könnten!

Andererseits bin ich heilfroh, dass Deutschland ein Land ist, wo Menschen Zuflucht suchen und finden vor tödlichen und repressiven Zuständen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Aus Deutschland mussten vor nicht allzu langer Zeit unzählige Menschen fliehen, um nicht vergast oder auf andere Weise umgebracht zu werden. Ich bin zutiefst dankbar, dass Deutschland trotz dieser Geschichte ein Land geworden ist, auf das sich die Hoffnungen vieler Menschen aller möglichen Herkünfte richten, dass sie sich hier ein selbstbestimmtes Leben aufbauen können. Ich will, dass dies so bleibt und bin erschrocken über all jene, die diese Errungenschaft Deutschlands zunehmend lautstark und schrill ablehnen.

Muss es aber so sein, dass Menschen aus manchen Ländern fliehen müssen, um Schutz in anderen zu finden? Können wir uns eine Zukunft vorstellen, in der die Menschenrechte überall respektiert werden, Menschen emigrieren können, ohne dazu gezwungen zu werden, und vielfältige spannende Begegnungen ermöglicht werden?

Solange all dies ein Wunschtraum ist, ist es für mich nicht verwunderlich, wenn die Frau mit der Glocke keinen Raum findet, um aufrecht zu stehen, und wenn wir die Stille nicht hören, die auf das Verklingen ihrer Glocke folgt.
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P.S.: Für interessierte Lesis: Link zum Bericht von Correctiv über die Beratungen von Leuten aus der AfD und deren Umfeld, wie sie Massendeportationen organisieren wollen.

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