Halbfremd

Aus halbfremden Augen

Heute beginne ich ernsthaft mit einem neuen Blog. Es geht mir hier um eine Sicht aus halbfremden Augen, auf gesellschaftliche Themen in der heutigen Zeit des Umbruchs – in der sich herausstellen wird, ob wir kollektiv den längst fälligen Übergang schaffen von dem jetzigen hektischen Zeitalter der dauernden Beschleunigung zu einem ruhigeren, gelasseneren Zeitalter, dass die Lebenskunst pflegt.

Warum halbfremd?

Geboren wurde ich von deutschen Eltern in Deutschland. Ich besitze seit meiner Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft. Doch wirklich deutsch bin ich nicht, denn ich wuchs in Thailand, Korea und Griechenland auf und lebte den größten Teil meines Lebens in den USA. In den USA fühlte ich mich mit der Zeit immer fremder, war dort – halbfremd. Seit meinem Umzug nach Deutschland bin ich auch hier – halbfremd.

Geboren wurde ich als Junge, ich lebte den größten Teil meines Lebens als Mann, doch fühlte ich mich nie als »rechter Mann« und konnte erst glücklich werden, als ich aufhörte, mich als »Mann« zu identifizieren. Nun lebe ich so weit ich kann als Frau, doch bin ich dennoch weitgehend Mann und bin deshalb, ob als Mann oder Frau – halbfremd.

Ich habe verschiedene Fächer studiert, machte in den USA eine akademische Karriere, doch mit dem akademischen Betrieb habe ich heute wenig mehr zu tun. An Universitäten bin ich also – halbfremd.

Ich setze mich seit über 30 Jahren mit der Suche nach Wegen aus der existenziellen Krise unserer Zivilisation auseinander, stelle die Frage, wie wir eine zukünftige, überlebensfähige Gesellschaft gestalten können. Ich lebe allerdings seit meiner Geburt in der Gesellschaft, die ich kritisiere. Deshalb fühle ich mich in ihr – halbfremd.

Nun habe ich vor, aus dieser halbfremden Perspektive einen Blog zu schreiben. Ich hoffe damit, aufschlussreiche Einsichten anzubieten in einer Welt am Rande des Chaos. Vielleicht können auch Menschen aus meinen Beiträgen neue Erkenntnisse ziehen, die sich nicht fremd fühlen, oder im Gegenteil völlig fremd, oder die auf ihre ganz eigene Weise halbfremd sind.

 

Da ich in Deutschland Anfang des 21. Jahrhunderts über gesellschaftliche Themen schreibe, muss ich schon fast im ersten Satz meines ersten Beitrags eine Entscheidung treffen, die ich jetzt schon einige Absätze lang vor mir her geschoben habe: nämlich, wie ich gendern will. Es tobt ein Kulturkampf zwischen jenen, die auf korrektes Gendern bestehen mit Binnen-I oder Gendersternchen, oder mit Ansprachen an »Bürgerinnen und Bürger«, und jenen, die mit Entsetzen und Empörung aufschreien, die deutsche Sprache werde verhunzt, das generische Maskulinum beziehe sich doch auf alle Menschen, und Frauen werden durch Wörter wie »Bürger« doch auch angesprochen. Zwei Beiträge mit konträren Ansichten zu diesem Thema erschienen kürzlich im Freitag, siehe die Links unten.

Ich finde es etwas kurios, dass ein Abstraktum – die deutsche Sprache – gegen konkrete Menschen ausgespielt wird, nämlich gegen Frauen, die sich durch bestimmte sprachlichen Formen angesprochen fühlen oder eben auch nicht. Frauen kann man oder mensch oder frau nicht verordnen, sich durch männliche Formen inkludiert zu fühlen. Wenn viele Frauen sich durch männliche grammatische Formen nicht angesprochen fühlen, und viele Menschen (Frauen und Männer) gar nicht an Frauen denken, wenn sie diese Formen verwenden, dann sollten wir aufhören, mit männlichen Formen Frauen »mit zu denken«. Frauen gehören nicht »mit« gedacht, sondern ganz einfach gedacht. Alles andere bedeutet, dass Frauen nicht ernst genommen werden und ihre Bedürfnisse hintangestellt werden.

Die Sprache, die nicht verhunzt werden soll, ist allerdings nicht bloßes Abstraktum. Gelebte Sprache besteht aus unzähligen Sprech- und Schreibakten, die leicht oder schwerfällig über die Lippen kommen, die sich pedantisch oder nachlässig oder schludrig oder passend oder platt oder gebildet oder weltgewandt anhören, die umständlich oder einfach sind. Jede sprechende Person stellt Ansprüche an die eigene Sprache und an die Sprache derer, mit denen sie kommuniziert. Neue Wörter und Ausdrucksweisen können sich deshalb in einer Sprache nur durchsetzen, wenn Menschen sie bereitwillig in ihren eigenen Sprachgebrauch aufnehmen.

Gängige Formen des inklusiven Genderns haben leider ganz erhebliche Nachteile, weshalb viele Leute sie ablehnen. »Bürgerinnen und Bürger« wirkt behäbig und umständlich und verlängert Sätze, verschlimmert somit Untugenden, die besonders in der deutschen Amtssprache schon weit verbreitet sind. Das Binnen-I sowie das Gendersternchen müssen im Sprechen durch einen kurzen Stopp dargestellt werden, der sich wie ein Schluckauf anhört und den Redefluss stocken lässt. Auch beim Tippen und Lesen erscheinen diese Formen des Genderns wie ein Hindernis. Das ist weder elegant noch einfach.

Alle diese Formen des Genderns packen mehr Informationen in die Wörter. Das Sternchen soll bedeuten, dass nicht nur alle Frauen und Männer, sondern auch alle, die sich weder der einen noch der anderen Kategorie zugehörig fühlen, gemeint werden. Doch was, wenn manche Menschen sich auch durch das Sternchen nicht inkludiert fühlen? Müssen wir dann noch ein weiteres Symbol hinzufügen?

Viel einfacher ist es doch, wegzulassen. Dafür gibt es in der gegenwärtigen deutschen Sprache sogar zwei hervorragende Beispiele: Azubi und Studi. Studis sind Menschen im Studium, Azubis sind Auszubildende, egal welchen Geschlechts. Mit der Endung »-i« lassen wir einfach die leidigen Endungen weg, die zwingend die Geschlechter der Menschen anzeigen – wir müssen ja auch nicht ihre Nationalitäten, ihre Hautfarben, ihre politischen oder modischen Präferenzen erwähnen, sobald wir von ihnen sprechen. Die Begriffe »Azubi« und »Studi« haben sich in der deutschen Sprache gut etabliert, ohne große Kontroversen auszulösen. Sicher einfach deswegen, weil sie die Sprache vereinfachen.

Diese Wortschöpfungen Studi und Azubi mache ich mir nun zum Modell. »Bürgerinnen und Bürger« bezeichne ich als Bürgis. »ÄrztInnen« sind Ärztis. Mitarbeiter*innen sind Mitarbeitis. Diese Ausdrücke unterscheiden sich von »Bürger«, »Ärzte« und »Mitarbeiter« hinreichend, um zu signalisieren, dass nicht nur von Männern gesprochen wird. Sie sind aber auch nicht länger als die männlichen Formen. Sie machen die Sprache nicht umständlicher. Durch die Orientierung am Modell »Studi« dürften sie auch verständlich sein.

Es bleibt noch die Frage des Generikums im Singular. Soll es der oder die oder das Bürgi sein? Ich schlage vor, die Endung -i grammatisch neutral sein zu lassen, ähnlich wie das -lein und das -chen, Das bedeutet nichts über das biologische oder das gefühlte oder das rechtlich anerkannte Geschlecht der Person, über die ich rede, genau so wenig wie ein Kind, ein Mädchen, ein Büble oder ein Fräulein geschlechtslos, oder eine Prostata ein weiblicher, ein Busen ein männlicher Körperteil, oder eine »Person« unbedingt weiblich oder ein »Mensch« unbedingt männlich sind. Jedoch kann das grammatische Neutrum betonen, dass die geschlechtliche Identität einer Person unerwähnt geblieben ist.

Damit habe ich nun die Grundlage gelegt für mein weiteres Schreiben.

 

Karsten Krampitz, 2022, Die Linke hat ein ernstes Problem mit der Sprache, Freitag 37/2022.

Jens Kastner, 2022, Für einige Linke kaum zu glauben, aber Gendern führt nicht in den Faschismus!, Freitag, 26.9.2022.

 

P.S. 11.1.23: Ich bin inzwischen darauf hingewiesen worden, dass ein ähnlicher Vorschlag schon längst gemacht worden ist, und zwar von Hermes Phettberg, 1992, mit Endung auf -y statt -i. Davon wusste ich nichts, als ich den obigen Beitrag schrieb, fühle mich jetzt aber gestärkt darin, dass auch andere auf ähnliche Gedanken gekommen sind. Zu Phettberg siehe:

Thomas Kronschläger, 2022, Entgendern nach Phettberg, Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb.

 

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4 Kommentare

  1. Liebe Wiltrude, vielen lieben Dank, dass du mich an deiner Gedankenwelt teilhaben lässt. Offene Worte sind heutzutage sehr wichtig und du schaffst es ehrlich und feinfühlig über stark diskutierte Themen zu sprechen.

    Auch ich stelle meine Sätze oft um, damit ich dem Gendern entgehen kann. Ich stehe voll und ganz hinter der Meinung, dass Frauen gleichbehandelt werden sollen, doch mit den Gendersternchen und allen Auflistungen tue ich mir persönlich schwer.

    Während meines Studiums haben wir alle Studenten des Fachs Mode „Modis“ genannt und die des Fachs Schmuck „Schmuckis“. Auch ich bin ein Modi und habe mich immer wohl damit gefühlt, allerdings ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, dies auch als eine neue Form des Genderns zu sehen. Daher danke, dass du mir diese neue Sichtweise geschenkt hast, mit der ich mich sogar wohl fühle und die ich bereits seit Langem verwende!

    Ich freue mich auf die kommenden Beiträge.
    Liebe Grüße
    Claire

  2. Wiltrude Höschele

    Danke Claire für deinen Kommentar!
    Die Bezeichnungen „Modi“ und „Schmucki“ waren mir bisher unbekannt. Es ist ja spannend, wie sich solche Bezeichnungen ausbreiten und dabei ganz nebenbei neue Ansichten und Lebensperspektiven vermitteln!
    Liebe Grüße
    Wiltrude

  3. Liebe Wiltrude,
    versprochen ist versprochen, habe Deinen ersten Blogbeitrag von Anfang bis zum Ende gelesen – und bin sehr begeistert von Deiner Klarheit, Deiner konsequenten Gedankenführung, Deinen inspirierenden Gedankenimpulsen. Ich freue mich schon auf den nächsten Blogbeitrag!
    Bei uns im Team sind wir Mitarbeitende, die mit der technischen Produktentwicklung der Konfektion zu tun haben, die „Konfis“, also wieder eine schöne Bestätigung Deines sprachlichen Lösungsansatzes – so einfach wie effektiv!

  4. Ich finde das mit der geänderten Form Azubi im Grunde eine gute Idee. Ich – Mann – merke selbst, dass, wenn ich mir Mühe gebe zu gendern, ich wirklich anfange auch an die „anderen“, Frauen etc. zu denken. Das ist wirklich eine Art der Übung, die nottut. Insofern ist es vielleicht ganz sinnvoll eine Weile mit „behäbiger“ Sprache zu leben.
    Ich einer Gruppe hatte ich jetzt vorgeschlagen, dass wir einfach zwischen männlicher und weiblicher Form in Texten wechseln – nach Zufall. Ich glaube, das könnte die Sprache etwas „entbehäbigen“, ohne den Zweck wegfallen zu lassen.
    Was mir an Studi / Azubi … nicht gefällt, ist, dass dieses „i“ so etwas ist wie eine „Verniedlichtungs- / Verkleineinerungsform“. Und das trifft die Sache oft nicht, weil dann der Respekt verloren geht. Ist es eigentlich dann das Kollegi?
    Hab aber auch keine wirkliche Idee, was statt dessen. Azubo oder Azuba ist wieder geschlechtsspezifisch. Mit den anderen Vokalen wird es auch nicht besser.

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