Frau oder Mann

Frau- oder Mann-»Sein«

In meinem vorigen Beitrag habe ich erwähnt, dass ich den größten Teil meines Lebens als Mann gelebt habe, nun aber weitgehend als Frau lebe. Ich firmiere mit einem weiblichen Namen, nämlich Wiltrude Höschele.

»Bin« ich nun Mann oder Frau?

Dies ist eine Frage, die sehr ernst genommen wird. Sobald wir einen Menschen auf der Straße sehen, kategorisieren wir ihn als männlich oder weiblich. Die meisten Menschen ertragen es nur schwer, mit einer zu Person sprechen, ohne zu wissen, welchem Geschlecht sie angehört. An sich könnte es Ihnen/Euch, meinen Lesis, ja egal sein, ob eine Frau oder ein Mann diese Zeilen geschrieben hat. Vielleicht macht uns Unwissen in diesem Bereich auch deswegen so zu schaffen, weil wir in den europäischen Sprachkulturen kaum über jemanden reden können, ohne mittels weiblicher oder männlicher Formen sein Geschlecht zu erwähnen! Allerdings mache ich es Euch/Ihnen gerne in diesem kulturellen Kontext leichter, über mich zu reden.

Problematisch an der Frage, ob ich Frau oder Mann sei, ist die Voraussetzung, ein Mensch »sei« entweder ausschließlich Mann oder Frau. Ich »bin« Mensch und kann gar nicht anders als Mensch sein und entsprechend zu denken und zu fühlen. Diese Identität ist klar. Bei allen anderen Identitäten innerhalb der Kategorie »Mensch« sind die Grenzen allerdings weniger eindeutig. Ich kann zum Beispiel nicht hundertprozentig sagen, ich sei »deutsch«, obwohl ich mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren bin und sie niemals aufgegeben habe. Denn ich habe den größten Teil meines Lebens in anderen Ländern verbracht, bin durch meine Erfahrungen dort geprägt worden und bin deshalb in Deutschland in mancher Hinsicht fremd. Die Grenzen zwischen Ländern und Nationalitäten sind zwar real und werden rechtlich möglichst eindeutig gezogen, doch lassen sie sich überqueren und es gibt Überschneidungen und Zwischentöne.

Ich schlage vor, die Geschlechtsidentität ähnlich zu sehen wie die Zugehörigkeit zu einer Nation.

Geschlecht ist eine vielschichtige Angelegenheit. Es gibt die Schicht der biologischen Reproduktion, die bis auf die ersten sich sexuell reproduzierenden Organismen zurückgeht. Es gibt verschiedene körperliche Ebenen der weiblichen und männlichen Körper bei Säugetieren allgemein und bei Menschen im Besonderen. Es gibt Verhaltensweisen, die vorwiegend oder ausschließlich bei dem einen oder anderen menschlichen Geschlecht vorkommen. Es gibt verschiedene sexuelle Vorlieben und Verhaltensweisen. Es gibt Geschlechterrollen, die je nach menschlicher Gesellschaft vorgegeben oder auch flexibel gehandhabt werden und die sich ständig verändern. Es gibt Formen der Bekleidung, der Accessoires, des Schmucks, der Körperverzierung, die je nach Kultur geschlechtsspezifisch ausgestaltet sind. Es gibt sprachliche Formen, die Geschlecht anzeigen, in jeder Sprache etwas anders. Es gibt die gefühlte Geschlechtszugehörigkeit. Jede dieser Ebenen kann vertieft ausdifferenziert werden. Schließlich kann es Widersprüche geben zwischen verschiedenen Schichten oder Ebenen.

Diese Vielschichtigkeit wird umgangssprachlich anerkannt durch die Redeweise, »ein rechter Mann« tut dies oder unterlässt das andere. Was dies oder das andere sein soll, verändert sich dabei ständig. Einst leistete »ein rechter Mann« keine »Frauenarbeit« im Hause. Dieses Zeitalter ist hoffentlich vorbei. Doch darf heute ein »rechter Mann« mit Lippenstift oder Nagellack auftreten? Oder darf ein »rechter Mann« sich als homosexuell outen? Wer »Schwuchtel« als Schimpfwort verwendet, sieht einen Schwulen bestimmt nicht als »rechten« Mann. Wer von »rechten Männern« spricht, spricht damit aus, dass das Mann-Sein (und natürlich auch das Frau-Sein) nicht nur vom biologischen Geschlecht abhängt, sondern auch von zahlreichen, meist unklar definierten, Verhaltensweisen, Vorlieben, Denkmustern, Gefühlsregungen, Ausdrucksweisen usw. Die Ausdrucksweise »rechter Mann« ist deshalb logisch und philosophisch unvereinbar mit der Ansicht, das Mann- oder Frau-Sein hänge ausschließlich vom biologischen Geschlecht ab.

Die Rede vom »rechten Mann« impliziert natürlich eine Einstufung von »unrechten« Männern als minderwertig – minderwertig, weil sie sich auf die eine oder andere Weise wie eine Frau verhalten. Das bedeutet, dass auch Frauen als minderwertig eingestuft werden. Das verträgt sich nicht mit der Gleichberechtigung von Frauen. Als Analogie: ist eine Deutsche, die sich nach vielen Jahren in Frankreich in mancher Hinsicht so verhält, wie es in Frankreich üblich ist, keine »rechte Deutsche« mehr? Zu Zeiten nationalistischer Kriege zwischen Deutschland und Frankreich wurde so etwas sicher gesagt. Aber heute? Ich hoffe nicht. Denn wir betrachten die Menschen dieser beiden Länder als gleichwertig und den kulturellen Austausch zwischen ihnen als beiderseitige Bereicherung.

Wenn wir Frauen und Männer als gleichwertig ansehen, gibt es keinen Grund, einen Mann, der manche von Frauen gelernte Verhaltensweisen praktiziert, als minderwertig zu betrachten. Er ist ganz einfach ein Mann, der etwas von Frauen gelernt hat.

Die Vielschichtigkeit – und damit auch die Widersprüchlichkeit – des Geschlechts ist bei transidenten Personen besonders offensichtlich, tritt aber bei den meisten Menschen irgendwie auf. Jeder Mensch, der sich in überkommenen Geschlechterrollen nicht ganz wohl fühlt oder der sich manchmal wünscht, dem anderen Geschlecht zuzugehören oder etwas zu tun, das dem eigenen Geschlecht im eigenen Kulturraum normalerweise verwehrt wird, offenbart Widersprüche zwischen verschiedenen Ebenen der Geschlechtszugehörigkeit. Das ist genau so »natürlich« wie Jahrtausende alte Wünsche von Menschen, zu fliegen oder den Mond zu besuchen, mit Tieren zu sprechen, andere spirituelle Welten zu entdecken, fremde Weltgegenden zu erkunden, sich andere Sprachen anzueignen und so weiter. All diese und viele weitere Beispiele belegen, dass Menschen sich nicht immer in »natürliche« Ordnungen einfügen, sondern diese hinterfragen, herausfordern, überwinden, oder gar negieren. Grenzen zu überschreiten gehört zur Natur des Menschen.

Jemand, der Grenzen überschreitet, hat allerdings immer etwas von beiden Seiten in sich. Er ist weder der einen noch der anderen Seite vollständig zuzuordnen. Jedoch ist eine eindeutige Zuordnung für manche Zwecke wichtig. Eine Migrantin aus Syrien mit deutscher Staatsangehörigkeit ist im Sinne des Staatsangehörigkeitsrechts voll und ganz als Deutsche zu behandeln. Das hängt nicht davon ab, wie sehr sie sich weiterhin noch als Syrerin fühlt, welche Erinnerungen sie hat, welche Sprachkenntnisse sie hat und so weiter. All diese Zwischentöne sind wichtig, wenn es darum geht, sie als Mensch kennenzulernen. Doch es muss ganz klar sein, dass sie als Deutsche alle Rechte einer deutschen Staatsbürgerin in Anspruch nehmen darf.

Als Grenzgängi »bin« ich auf bestimmten Ebenen eine Frau, auf anderen »bin« ich ein Mann oder vielleicht etwas zwischen Mann und Frau, oder weder das eine noch das andere sondern ganz einfach Mensch. In den letzten Jahren habe ich aber entdeckt, dass ich nur wirklich glücklich sein kann, wenn ich mir zugestehe, dass ich mich mehr mit Frauen als mit Männern identifiziere. Deshalb möchte ich am liebsten mit Frauennamen angesprochen und mit weiblichen grammatischen Formen bezeichnet werden. Deshalb bitte ich auch Sie/Euch, meine Lesis, mich als Frau zu bezeichnen. Das kostet Euch/Sie höchstens ein bisschen Überwindung und macht mir eine Freude. Das bedeutet aber nicht, dass ich durch und durch eine Frau »bin« (genauso wenig wie die Bezeichnung »Herr« das Gegenteil bedeuten würde), sondern nur, dass das Frau-Sein in meinen gesellschaftlichen Interaktionen und in meiner schriftstellerischen Tätigkeit im Vordergrund steht.

Vielleicht hilft es Euch/Ihnen, die weibliche oder männliche Anredeform mit einem Doktortitel zu vergleichen. Wer einen Doktortitel erworben hat, darf diesen tragen als Anerkennung der dafür geleisteten Arbeit. Transidente Personen haben meist sehr viel an Lebenskraft und -willen in ihre gesellschaftliche Wandlung eingesetzt. Über eine Würdigung dieses Einsatzes durch die Wahl der Anredeformen jenes Geschlechts, dem ich mich zugehörig fühle, freue ich mich!

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