Wachstum

In unserer heutigen Gesellschaft scheiden sich die Geister am »Wachstum«. Die einen sind dafür, wollen möglichst immer mehr davon. Allenfalls sprechen sie von »nachhaltigem Wachstum«, weil ihnen doch irgendwie bewusst ist, dass nicht alles Wachstum gut ist und folglich gutes von weniger gutem Wachstum zu unterscheiden ist. Auf der Gegenseite werden »Postwachstum« oder »Degrowth« und »Decroissance« heraufbeschworen, wir sollen endlich vom Wachstumspfad weg.

Wie stehe ich zu dieser Debatte?

Ich sage es so: Die Debatte geht völlig an Wachstum vorbei. Wir müssen klären, worüber wir eigentlich reden.

Was ist denn Wachstum?

Wachstum im Wortsinne, wie das Wachstum eines biologischen Organismus oder eines Menschen, vollzieht sich in Zyklen, zu denen auch der Tod gehört. Kein Baum wächst in den Himmel. Er fällt irgendwann, wird vom Blitz geschlagen oder von Käfern oder von einem Feuer aufgefressen. Die Reste verfaulen und werden Teil des Bodens, der wieder neues Leben hervorbringt. Wir kommen von der Erde und verfallen zu Staub. Wachstum ist Teil dieses Zyklus, es quillt hervor, bis es vergeht und Platz macht für neues Leben. Wachstum ist etwas Gutes, ohne Wachstum gibt es kein Leben und keine Weiterentwicklung. Wachstum brauchen wir, und eine Postwachstumsgesellschaft ist gar nicht möglich.

Das sogenannte Wirtschaftswachstum, das mit dem Bruttosozialprodukt (BSP) und ähnlichen Maßen des Gesamtumsatzes gemessen wird, ist allerdings kein Wachstum. Denn alles soll immer weiter wachsen, nichts wird im Kontext von Lebenszyklen gesehen. Als im Jahr 2020 weltweit wegen Covid »nur« wenig mehr (!) Flugverkehr stattfand als im nicht sonderlich krisenreichen Jahr 2003, dann wurde das schon als Katastrophe für den Flugverkehr gesehen.1 Es hängen unzählige wirtschaftliche Interessen daran, dass alles immer mehr wird, weshalb Effizienzsteigerungen die Nachfrage nach Ressourcen niemals vermindern. Zum Beispiel werden effizientere Verbrennungsmotoren in größere Wagen gebaut, die dann noch mehr Benzin verbrauchen als ihre Vorgänger.

Für unkontrolliertes Wachstum gibt es einen deutschen Begriff: Wucherung. Dieser Begriff bezieht sich auf das Wort Wucher: der Zins, der eine Geldmenge immer weiter exponentiell wachsen lassen soll, ohne Rücksicht auf natürliche und damit begrenzte Wachstumsprozesse. Alles soll einfach immer mehr werden, ohne Sinn und Verstand.

»Wucherung« bezieht sich auch auf einen »überwucherten« Garten – in dem einfach alles wachsen darf, was sich ausbreitet. Auf dem Wege hin zu einem natürlichen Ökosystem kann das sinnvoll sein, nicht aber in einem Garten, der Menschen Nahrung, Entspannung oder Freude bringen soll. In letzterem muss bewertet werden, was wachsen soll und was nicht, und wo das Wachstum aufhören soll. Auch in Wirtschaft und Politik müssen wir bewerten, was sinnvollerweise zunehmen und was abnehmen oder vergehen soll. Solche Werturteile können wir nicht umgehen, sonst gilt nur das Recht des Stärkeren. Konventionelle Definitionen des »Wachstums« vermeiden notwendige Werturteile und sind deshalb verlogen.

Hinter Definitionen des Wirtschaftswachstums verbirgt sich noch etwas anderes, nämlich Maße des Umsatzes, das heißt, wie viel Geld ausgegeben wird. Anders gesagt: es sind Maße des Aufwands, der getrieben wird. Wie viele Menschen werden angestellt zu welchem Preis, wie viele natürliche Ressourcen werden mit welchem technologischen Aufwand aus der Erde gefördert und so weiter? Je mehr Aufwand, desto mehr »Wachstum«.

Als Beispiel: wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt, dessen Ressourcenverbrauch ist begrenzt auf ganz geringen Verschleiß der Schuhe bzw. des Fahrrads, der fördert seine Gesundheit durch Bewegung des Körpers, der trägt zu keinem Straßenstau bei, der verursacht keine Luftverschmutzung, und der spart sich dabei sogar Geld (und damit Arbeitszeit) verglichen mit jemandem, der mit dem Auto fährt. Wenn der betreffende Ort halbwegs schön ist, ist der Weg zur Arbeit auch angenehm und ist Teil der Lebensqualität. Er kostet so gut wie nichts und führt zu geringen oder gar keinen Folgekosten. Folglich führt der Arbeitsweg zu keinem »Wirtschaftswachstum«. Er verbessert aber die Lebensqualität, nicht nur des einzelnen Menschen, sondern von vielen Menschen.

Mit ähnlichen weiteren Beispielen ließe sich ein Buch füllen.

Es ist zwar nützlich, Aufwand zu messen, aber immer mit Bezug auf das erzielte oder zu erwartende Ergebnis. Haben Sie viel oder wenig ausgegeben, als Sie kürzlich abends essen gegangen sind? Die Frage ist erst sinnvoll, wenn Du auch daran denkst, ob Dir das Essen geschmeckt hat und ob Dir der Abend insgesamt gefallen hat.

Eine andere Analogie: ein Maß des Aufwands ähnelt der Drehzahl eines Motors. Die soll immer in einem moderaten Bereich liegen, um zügig anzukommen, den Motor aber nicht zu ruinieren. Ob wir unser Ziel aber erreicht haben, oder ob wir uns dem Ziel überhaupt nähern, sagt uns die Drehzahl niemals. Das können wir nur feststellen, indem wir uns umschauen, wo wir sind, oder eine Landkarte oder einen Navi zu Rate ziehen.

Was wir brauchen, ist kein besseres Maß des Aufwands, den wir treiben, sondern bessere Landkarten und Navis, um unseren Weg zu finden. Diese Landkarten und Navis müssen uns in einem hochkomplexen und schwierigen Terrain weiterhelfen. Deshalb ist es mit einer einzigen Zahl analog dem BSP nicht getan.

Wir brauchen gute Maßstäbe, wie gut die Bedürfnisse der Menschen eines Landes befriedigt werden, die wir dann mit dem Aufwand an verwendeten Ressourcen in Beziehung setzen.

Wie gut die Bedürfnisse eines Menschen befriedigt werden – d.h., wie zufrieden er ist – kann ein Mensch letztlich nur über sich selbst aussagen. Folglich können wir uns bei der Messung der Zufriedenheit nicht auf Statistiken verlassen, wie viele Konsumgüter hergestellt werden, wie viele Menschen einen Schulabschluss machen und so weiter. Wir müssen die Menschen direkt befragen, wie zufrieden sie sind in verschiedenen Bereichen ihres Lebens. Zu diesem Zweck gibt es hochentwickelte, verlässliche und repräsentative Umfragemethoden. Die sind unvergleichlich viel ausgewogener als Quantifizierungen von Geldströmen, denn letztere sind Abstimmungen mit Geld, bei der reiche Leute sehr viel öfter abstimmen als arme.

Der Aufwand, der betrieben wird, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, ist vor allem daran zu messen, welche natürlichen und menschlichen Ressourcen aufgewendet werden. Auch Ressourcenaufwand kann gemessen werden, anhand jedes Jahr verbrauchter Ressourcen wie auch der Menge und Qualität der verbleibenden Ressourcen. Besonders wichtig ist es, darauf zu achten, dass erneuerbare Ressourcen nur innerhalb ihrer Regenerationsfähigkeit verwendet werden, und dass nicht erneuerbare Ressourcen auch für nachkommende Generationen erhalten bleiben.

Wie halte ich es also mit Wachstum?

Wachstum soll und muss sein – aber wir müssen ernsthaft darüber reden, was eigentlich wachsen und was schrumpfen oder vergehen soll. Wir müssen miteinander darüber sprechen, wo wir hin wollen und wie wir dort hinkommen. Dafür brauchen wir gute Landkarten und Navis, aber die Drehzahl (den Aufwand) sollten wir bitteschön in einem mittleren Bereich halten und sie nicht mit Wachstum verwechseln!

In weiteren Beiträgen werde ich mich weiter damit beschäftigen, welches Wachstum wir brauchen und welches nicht.

 

 

1 Datenquelle: International Energy Agency, World air passenger traffic evolution, 1980-2020, last updated 4 Dec. 2020, https://www.iea.org/data-and-statistics/charts/world-air-passenger-traffic-evolution-1980-2020. Originaldatenquelle ist die International Civil Aviation Organization.

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