Europäische/westliche Werte

Europäische/westliche Werte

Am 10. Oktober hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell eine Ansprache gehalten bei einem Treffen der Delegierten, die die EU in Ländern in der ganzen Welt repräsentieren. Ich halte diese Rede bedeutsam zugleich dafür, was Borrell sagte, wie dafür, was er verschwieg.

In meinem heutigen Beitrag verwende ich meine Übersetzung von Auszügen aus dem offiziellen englischen Text dieser Rede (die auch als Video verfügbar ist), um einige Überlegungen anzustellen über die Werte, die die Europäische Union dem Rest der Welt vermittelt. Diese Werte werden oft als „europäische Werte“ bezeichnet und sind mehr oder weniger gleichbedeutend mit „westlichen Werten“.

Nahe dem Anfang seiner Rede sagte Borrell:

Unser Wohlstand ist begründet worden auf billiger Energie aus Russland. Russisches Gas – billig und angeblich preiswert, sicher und verlässlich. Wie sich herausgestellt hat, ist dies nicht der Fall. Und Zugang zum großen Markt Chinas, für Exporte und Importe, für Technologietransfer, für Investitionen, für billige Waren. Ich glaube, dass die chinesischen Arbeiter mit ihren niedrigen Löhnen Besseres und mehr getan haben, die Inflation zu bekämpfen, als alle Zentralbanken zusammen.

Es wäre treffender, diese Aussage über China auszuweiten und zu sagen, dass der europäische (und nordamerikanische) Wohlstand zu einem sehr großen Teil auf schlecht bezahlter Arbeit in Asien, Afrika und Lateinamerika gründet, wodurch Europa in der Lage ist, Rohmaterialien sowie arbeitsintensive Industriegüter billig aus diesen Ländern zu beziehen. China sticht hervor weil selbst seine technisch anspruchsvollen Exporte weiterhin durch geringe Löhne einen Marktvorteil haben. Europäischer Wohlstand gründet sich auch außerdem auf Importen von fossilen Brennstoffen aus Russland wie auch autokratischen Regimen wie Saudi Arabien. In Hinsicht auf alle diese Länder richten sich „die Märkte“ (das heißt, die Marktteilnehmis1) nach den Preisen der Güter, nicht nach den Bedingungen, unter denen sie hergestellt wurden. Dadurch wird vielleicht die Inflation in Zaum gehalten, noch stärker aber die Löhne auch in den reichen Ländern.

Borrell besprach im Folgenden Europas Abhängigkeit von den USA in Bezug auf militärische Sicherheit. Vielleicht werde ich mich in einem zukünftigen Beitrag diesen Fragen zuwenden, aber hier überspringe ich diesen Teil um beim Thema der Beziehungen Europas und des Westens zum Rest der Welt zu bleiben. In diesem Zusammenhang sprach Borrell von der Kluft zwischen „Demokratien gegen Autokraten“, wobei er zugab, dass es „auf unserer Seite“ viele autokratische Regime gibt (dachte er dabei zum Beispiel an Orbans Regierung in Ungarn?). Selbstkritisch merkte er an:

Wir denken zu sehr intern und dann versuchen wir, unser Modell zu exportieren, aber wir denken nicht genug daran, wie andere diesen Modellexport sehen werden. Ja, wir haben den „Brüsseler Effekt“ und setzen weiterhin Standards, aber zunehmend meine ich, dass der Rest der Welt nicht mehr bereit ist, unserem Modellexport zu folgen. „Das ist ein Modell, das beste, also müsst ihr ihm folgen“. Aus kulturellen, historischen und wirtschaftlichen Gründen wird das nicht mehr akzeptiert.

Wir müssen besser zuhören. Wir müssen uns aufs „Zuhören“ einstellen gegenüber der anderen Seite – die andere Seite ist der Rest der Welt. Wir müssen empathischer sein. Wir tendieren zur Überbewertung von rationalen Argumenten. „Wir sind das Land der Vernunft“. Wir meinen, besser zu wissen, was im Interesse anderer ist. Wir unterschätzen die Rolle der Emotionen und der beständigen Attraktivität der Identitätspolitik.

Aber was genau ist das „europäische Modell“? Jahrhundertelang kolonisierten europäische Länder den Rest der Welt. Langsam, mit vielen Widerständen und Rückschlägen, führten sie im Inland repräsentative Demokratie ein. Das Wahlrecht wurde den Männern der Arbeiterklasse und Frauen erst dann gewährt, als starke politische Bewegungen kaum eine andere Wahl zuließen. Ähnliche Rechte wurden in den Kolonien aber nur sehr zögerlich zugelassen. Viele kolonisierte Länder mussten blutige Kriege kämpfen um ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Heute bedeutet das Bestehen auf niedrigen Preisen in Märkten mit halsabschneiderischer Konkurrenz, dass „wettbewerbsfähig“ zu sein allzu oft erfordert, Löhne so weit zu drücken, dass die arbeitenden Menschen davon nicht menschenwürdig leben können. Solche Löhndrückerei erfordert drastische Einschränkungen der gewerkschaftlichen Organisation, der Meinungs- und Pressefreiheit und anderer verwandter Freiheiten. Politische Repression ist allzu oft die Vorbedingung, um erfolgreich in Märkte einzudringen, die nach wie vor von Europa und Nordamerika dominiert werden. Ist das die bedeutung des „europäische Modells“?

Gegen Ende seines Vortrags sagte Borrell:

Wir müssen die Verbindungen zwischen politischer Freiheit und einem besseren Leben erklären. Wir Europäer haben diese außergewöhnliche Chance. Wir leben in der Welt, in diesem Erdteil wo politische Freiheit, wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Zusammenhalt am besten sind, die beste Kombination von all dem. Aber der Rest der Welt ist nicht so. Unser Kampf ist, besser zu erklären, dass Demokratie, Freiheit, politische Freiheit nicht etwas ist, das man gegen wirtschaftlichen Wohlstand oder sozialen Zusammenhalt tauschen kann.

Borrells Vergleich Europas mit dem Rest der Welt ist fragwürdig. Wenige Tage später verstärkte er ihn in einer weiteren Rede, in der er Europa mit einem Garten, den Rest der Welt mit einem Dschungel verglich. Dies führte zu diplomatischen Protesten, zum Beispiel durch die Vereinigten Arabischen Emirate. Seitdem hat er eine Entschuldigung und Klarstellung angeboten (siehe die Links unten).

War aber Europa nicht ein mächtiger Treiber, den „Rest“ zu einem „Dschungel“ zu machen und ihn so zu halten? Was haben die Länder Europas – und des “Westens” insgesamt – die letzten Jahrzehnte gemacht? Sie haben effektiv an den Rest der Welt kommuniziert, dass politische Freiheit, Wohlstand und sozialer Zusammenhalt für den “Westen” schön zu haben sind, aber dass sie für den “Rest” nicht wirklich wichtig sind. Wichtig ist, dass der “Rest” dem “Westen” Güter zu den richtigen (niedrigen) Preisen liefert (koste es, was es wolle), und dabei Lippenbekenntnisse ablegt für Ideen wie Demokratie und Menschenrechte. Also müssen sich zum Beispiel chinesische Machthaber Predigten über die Uiguren, über Tibet oder über Ai Weiwei über sich ergehen lassen, aber nach oder vielleicht schon vor den Predigten werden Handelsabkommen auf der Grundlage der wirklich „wichtigen“ Angelegenheiten wie der Warenpreise unterschrieben.

Was die EU machen muss, um “europäische Werte” an den Rest der Welt zu vermitteln, ist klarzustellen, dass sie Demokratie und Menschenrechte im Rest der Welt (und nicht nur daheim) höher schätzt als die niedrigen Preise importierter Güter. Außerdem sollte sie aufhören, von “europäischen” oder “westlichen” Werten zu reden, und stattdessen schlicht von “freiheitlichen” Werten der “liberalen Demokratie” und der “Menschenrechte”. Aufhören mit der Anmaßung, diese Werte würden von allen Menschen Europas oder des Westens geteilt, sowie mit der implizierten Vorstellung, die Menschen im Rest der Welt müssten erst europäisch oder westlich werden, bevor sie diese Werte teilen können!

In meinem nächsten Beitrag habe ich vor, zu besprechen, wie die europäischen oder im weiteren Sinne “westlichen” Länder dies tun könnten.

 

1Zu der -i-Endung, siehe den Beitrag „Aus halbfremden Augen“

Berichte über Borrells Gleichnis von “Garten und Dschungel”

Tim Stickings, Oct. 16, 2022, EU’s Josep Borrell under fire for calling outside world a “jungle”, The National (United Arab Emirates).

Josep Borrell, Oct. 18, 2022, On metaphors and geopolitics, HR/VP Blog.

Jorge Liboreiro, Oct. 20, 2022, Josep Borrell apologizes for controversial ‘garden’ vs. ‘jungle’ metaphor but defends speech, Euronews, Lyon.

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