Freie Märkte

In meinem vorigen Beitrag habe ich dargelegt, die Europäische Union könne freiheitliche Werte der liberalen Demokratie und der Menschenrechte nur überzeugend nach außen vermitteln, wenn sie klarmacht, „dass sie Demokratie und Menschenrechte im Rest der Welt (und nicht nur daheim) höher schätzt als die niedrigen Preise importierter Güter.“ Bevor ich mich der Frage widme, wie sie das machen kann, möchte ich in meinem heutigen Beitrag ausarbeiten, wie die Werte der Demokratie und der Menschenrechte mit denen des „freien Marktes“ und der „Wettbewerbsfähigkeit“ zu verbinden sind.

Wettbewerbsfähigkeit wird gemeinhin verstanden als die Fähigkeit, ein Produkt zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen als die Konkurrenz (zum Beispiel als Folge geringerer Produktionskosten), oder die Fähigkeit, qualitativ bessere Produkte zu einem höheren Preis zu verkaufen (zum Beispiel als Folge innovativer Technik). Der „freie Markt“ wird oft darauf reduziert, dass Preise nicht vom Staat vorgegeben werden, dass die meisten Produkte von Privatunternehmen hergestellt und vertrieben werden, und dass mindestens zwei konkurrierende Unternehmen sehr ähnliche Produkte anbieten. Allerdings sind selbst nach solchen minimalen Definitionen viele Märkte alles andere als frei, da zum Beispiel ein sehr großer Teil der fossilen Brennstoffe von Staatsunternehmen gefördert und vertrieben wird, und in vielen Sektoren Monopole oder quasi-Monopole allen anderen Unternehmen ihre Konditionen aufzwingen (so zum Beispiel im Großhandel vieler landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Agrochemikalien und Saaten).

Es gibt jedoch auch anspruchsvollere Maßstäbe der „Freiheit“ des Markts, nach denen es nur wenige wirklich freie Märkte gibt. Ist der Buchhandel „frei“ wenn Amazon sein europäisches Hauptquartier in Irland einrichtet und dadurch prozentual wesentlich geringere Steuern zahlt als die vielen kleineren Buchhandlungen in ganz Europa? Können Arbeitis frei den Preis ihrer Arbeitskraft aushandeln, wenn sie ohne Erwerbsarbeit hungern müssen, die Unternehmis jedoch leicht andere Leute finden können – eventuell in anderen Ländern und Kontinenten? Können Landwirte frei entscheiden, ihr Land schonend zu bearbeiten, ihre Nutztiere einigermaßen artgerecht zu halten, wenn sie deshalb etwas teurer produzieren als die Konkurrenz? Der sogenannte freie Markt ist voller Zwänge, denen sich die wenigstens Akteure am Markt entziehen können. Nichts zeigt dies offensichtlicher als Businessratgeber, die mit äußerst autoritärer Sprache darlegen, was man alles tun „muss“, um am Markt zu bestehen. Letztendlich bestimmen die rücksichtslosesten Marktakteure am Rande der Legalität die Preise und damit die Messlatte, nach denen sich alle anderen richten müssen.

Manche Befürwortis des „freien“ Marktes wollen die Märkte durch Abschaffung möglichst aller gesetzlichen Regeln „befreien.“ „Deregulation“ nennt sich das. Soweit diese Bestrebungen erfolgreich sind, bedeutet dies aber, dass alles andere dem Markt geopfert wird: saubere Luft und sauberes Wasser, die Fruchtbarkeit der Böden, die körperliche und seelische Gesundheit und die Altersvorsorge der arbeitenden Menschen, und vieles andere mehr. Denn wer sich (unter der Voraussetzung fehlender Regeln) um all diese Dinge nicht schert, kann seine Produkte zu einem geringeren Preis verkaufen und gewinnt somit Marktanteile. Daran ändert sich nichts, wenn wohlsituierte und -meinende Menschen versuchen, möglichst sozial und ökologisch korrekt einzukaufen. Solches Verhalten ermöglicht nur Nischenmärkte für die so hergestellten Waren; der Massenmarkt wird überhaupt nicht betroffen.

Tatsächlich sind Gesetze und Regeln notwendig, damit der Wettbewerb die Unternehmen dazu bewegt, Ressourcen nicht nur effektiv zu nutzen, sondern sie auch zu pflegen, menschliche Arbeitskraft nicht nur irgendwie nützlich einzusetzen, sondern sich auch um die Menschen zu kümmern. Ungeregelter Wettbewerb führt zu einer Mentalität des Nehmens ohne je etwas geben zu wollen. Das führt schließlich zum Ruin aller Beteiligten, da die ökologischen und sozialen Lebensgrundlagen zerstört werden – ohne die übrigens auch kein Markt existieren kann. Das heißt, ohne Regeln geht es nicht.

Je mehr aber auf dem Spiel steht, um so mehr Regeln werden gebraucht. Eine Analogie zum Sport kann das verdeutlichen. Ein Fußballspiel auf dem Bolzplatz in der Nachbarschaft erfordert nur wenige Regeln, zwei Rücksäcke können als Begrenzung des Tors dienen, Schiedsrichter werden nicht gebraucht, Abseitsregeln werden sehr lässig gehandhabt, usw. Je weiter nach oben es geht, das heißt zu lokaler und regionaler Liga, 3. bis 1. Bundesliga, bis hin zum internationalen Fußball, um so umfangreicher werden die Regeln. Vier Offizielle, Videobeweis, akribische Bewertung jedes Handspiels und jeder Abseitsstellung usw., gibt es nur in den höchsten Ligen, wo Millionenbeträge vom Ausgang jedes Spiels abhängen. Ähnlich ist es bei Märkten. Je mehr weltumspannenden Handel es gibt, mit einer schier unendlich anmutenden Vielzahl an Produkten, deren Herstellungsmethoden aus der Distanz kaum nachvollzogen werden können, um so wichtiger ist ein umfangreiches Regelwerk.

Frei ist ein Markt also nicht, wenn es keine Regeln gibt. Sondern: frei ist ein Markt, wenn alle Beteiligten frei an der Aushandlung der Regeln teilnehmen können. Diese freie Aushandlung der Regeln ist nur möglich, wenn alle das Recht auf freie Meinungsäußerung haben, es Pressefreiheit gibt, wenn alle Menschen sich frei zu Gewerkschaften, Parteien, Verbänden, Vereinen, Interessengemeinschaften usw. zusammenschließen können, um ihre Rechte auch kollektiv zu vertreten, wenn die Gerichte und die Kontrollbehörden dafür sorgen, dass die vereinbarten Regeln auch eingehalten werden, wenn es Schutz gibt vor politischer Gewalt. Das heißt, eine freie Aushandlung der Marktregeln ist nur möglich unter den Bedingungen eines demokratischen Gemeinwesens mit einer verlässlichen Rechtsordnung. Derzeit werden diese Bedingungen nur in demokratischen Rechtsstaaten erfüllt. Daraus folgt: wo es keinen demokratischen Rechtsstaat gibt, gibt es keinen freien Markt.

Ich wiederhole: wo es keinen demokratischen Rechtsstaat gibt, gibt es keinen freien Markt.

Oder noch etwas anders ausgedrückt: Demokratie ist eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für einen freien Markt. Eine ausreichend Bedingung ist sie nicht, denn erstens garantiert die Existenz einer Demokratie noch lange nicht die adäquate politische und gesellschaftliche Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen, und zweitens sind Aushandlungsprozesse dieser Art sehr langwierig und können Generationen in Anspruch nehmen. Drittens müssen Marktbedingungen immer wieder neu ausgehandelt werden wegen technischen Wandels, veränderter Verfügbarkeit der verschiedensten Ressourcen, veränderter Gefährdungslage der Ökosystems usw.

Das heißt, freie Märkte sind eine Utopie, von der wir sehr weit entfernt sind. Sofern wir am Konzept des freien Marktes festhalten, lohnt es sich, daran zu arbeiten, Märkte immer ein bisschen freier zu gestalten. Gleiches gilt im Übrigen auch für alle anderen gesellschaftlichen Institutionen, die unser Zusammenleben regeln – jegliche Institution kann nur frei sein, wenn die sie betreffenden Regeln frei ausgehandelt worden sind und neu verhandelt werden können. Es wird ja längst nicht alles über Märkte geregelt. Die Verkehrsinfrastruktur wird großenteils vom Staat verwaltet, öffentlicher Nahverkehr wird von regionalen Verkehrsverbünden betrieben. Gesetzliche Sozialversicherungen agieren in einem staatlich vorgegebenen Rahmen, in dem Marktprinzipien nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vieles machen wir in Eigenversorgung entweder individuell oder in Haushalten. Universelle Schulbildung ist erst durch öffentliche Schulen ermöglicht worden. Zur Freiheit eines Landes gehört deshalb, dass das politische System es erlaubt, frei auszuhandeln, welche Lebensbereiche durch welche gesellschaftlichen Institutionen geregelt werden.

Im internationalen Handel werden Güter und Dienstleistungen angeboten, die unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen hergestellt worden sind. In vielen Ländern haben diese Voraussetzungen nichts oder nur sehr wenig gemein mit „freien Märkten“ wie ich sie hier definiert habe. Ohne verbindliche Regeln zum Schutz der Umwelt und der Menschenrechte können aber die Produkte, die ohne Rücksicht auf Umwelt und Menschenrechte hergestellt worden sind, zu einem niedrigeren Preis angeboten werden. Deren Verkäufer genießen einen Wettbewerbsvorteil.

Warum gibt es trotzdem manche Länder mit intern relativ „freien“ Märkten? Weil diese Länder eine privilegierte Stellung im Welthandel haben, die sie meist unter anderem einer Geschichte des Kolonialismus zu verdanken haben. Sie können sich dem zerstörerischen Wettbewerb einigermaßen entziehen – zumindest zeitweilig.

Freiheit kann aber kein Luxus sein, denn Luxus ist ein Privileg und keine Freiheit.

Deshalb sollten sich die Menschen in den Ländern mit relativ freien Marktbedingungen Gedanken machen, wie sie den Handel mit weniger frei verfassten Ländern so gestalten können, dass sich die Bedingungen für größere Freiheit tendenziell immer weiter ausbreiten und sich nicht zurückziehen.

An diese Feststellung möchte ich in meinem nächsten Beitrag anknüpfen.

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