Zugeparkte Straßen in Mannheim

An manchen Straßen Mannheims ist eine Seite zugeparkt, und nur eine Spur verbleibt für den fließenden Verkehr. Dies erzeugt sehr unangenehme, zuweilen bedrohliche Situationen für Radfahrende. Ich radle dort oft mit mulmigem Gefühl.

Erstes Beispiel: Spinozastraße in der Oststadt

Der Verkehr läuft in beiden Richtungen. Eine Spur ist aber völlig okkupiert durch parkende Autos – wohl zumeist von Anwohnis, die zwar eine Garage haben, aber ihren Zweit- oder Drittwagen auf der Straße abstellen, oder ihre Garage mit anderen Dingen füllen. Das (aus Nordwesten) entgegenkommende Auto, das man im Foto in der Ferne sieht, muss auf die linke Spur wechseln. Wer aus Südosten kommt, fährt rechts und hat Vorfahrt. Dies respektieren Autofahris, sofern der entgegenkommende Mensch motorisiert ist, und nutzen Ausweichmöglichkeiten wie die, die man links im Bild sehen kann.

Leider gibt es in Mannheim ziemlich viele unvernünftige Autofahris, die die Vorfahrt eines Menschen auf dem Fahrrad nicht respektieren. Die meinen, dass Radlis nur 50 cm Raum brauchen, um sich zwischen einem entgegenkommenden Auto und der Bordsteinkante hindurchzuzwängen. Ein paar Mal habe ich so jemanden gezwungen, zu halten, bevor ich an ihm vorbeifuhr. Übrigens waren das immer Männer, denn Testosteron scheint unvernünftiges Autofahren zu fördern! Das führte unweigerlich zu einer höchst ärgerlichen Konfrontation. Diese Leute schienen kein Verständnis dafür zu haben, dass man auf dem Fahrrad Schutzraum braucht vor einem entgegenkommenden Auto, und nicht zu wissen, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist, 1,5 m Platz zu lassen zwischen Auto und Fahrrad. Ich habe den Eindruck, solche Autofahrer betrachten sich als Könige und die Radfahrenden als Plebs, die ihnen gegenüber in Demut erstarren sollten. Sie sind empört, wenn ein Radfahri ihnen sagt, sie sollten auf die rechte Straßenseite ausweichen.

Ich liebe solche Konfrontationen nicht. Seitdem die Radspur auf der Augustaanlage eingerichtet wurde, verwende ich die Spinozastraße so gut wie nie in Ost-West-Richtung. In West-Ost-Richtung auch nur selten, allerdings weiche ich dann den entgegenkommenden Autos aus, weil sie ja die Vorfahrt haben – weswegen es für mich in dieser Richtung noch nie Konflikte gegeben hat.

 

Zweites Beispiel: Karl-Ludwig-Straße in der Schwetzinger Vorstadt

Auch hier ist eine Straßenseite zugeparkt mit Autos, nur eine volle Fahrspur steht zur Verfügung für Verkehr in beide Richtungen. Wenn man mit dem Auto von der Seckenheimer Straße hier einbiegt (wie das Auto im linken Bild), kann man nicht erkennen, ob 20 oder 30 m weiter jemand entgegenkommt. Es gibt aber keine Ausweichmöglichkeit nach rechts, weil Lücken zwischen den Parkplätzen fehlen. Die einzig anständige Lösung, wenn jemand per Fahrrad entgegenkommt: das Auto einen Moment halten, und ihn oder sie vorbeilassen. Denn die Fahrspur eines normal fahrenden Autos überschneidet sich hier mit der Fahrspur eines Fahrrads in der Gegenrichtung, von 1,5 m Sicherheitsabstand ganz zu schweigen!

Auch hier stoße ich auf völliges Unverständnis vonseiten vieler Autofahrer, dass sie anhalten sollen. Sie reagieren mit Empörung, Wut. Ich hätte doch so viel Platz, was will ich denn?

Ich will nur die Beachtung geltender Gesetze. Alle Autofahris würden einer Motorradfahrerin ausreichend Platz lassen. Warum dann nicht einer Radfahrerin – hat die weniger Recht auf körperliche Unversehrtheit?

Es scheint, Radfahrende, die ihr Recht einfordern, verstoßen gegen das Elfte Gebot:

Du darfst die Vorrechte eines Autofahrers nie in Frage stellen!

 

Drittes Beispiel: Tatersallstraße beim Wasserturm

Dies ist offiziell eine Fahrradstraße. Nur wenige Autofahris scheinen dies bemerkt zu haben – vielleicht halten sie die farbigen Markierungen auf der Straße für eine hübsche Dekoration. Vielleicht teilt sogar die Stadtverwaltung diese Auffassung?

Autos dürfen hier nur in einer Richtung fahren. Sie brauchen die Straße vorwiegend, um an einen der Parkplätze heranzukommen (wobei es unterm Wasserturm in direkter Nähe eine große Zahl von Stellplätzen gibt). Radlis dürfen in beiden Richtungen fahren, denn für sie ist dies eine wichtige Verbindung zwischen Hauptbahnhof, Innenstadt und Neckarstadt, parallel zum von Autos dominierten Kaiserring. Auch hier: etliche Autofahrer sind nicht bereit, entgegenkommenden Radfahris Platz zu lassen oder kurz anzuhalten. Im Foto sieht man, wie der Radfahrer kaum 1,5 m Platz hat zwischen dem entgegenkommenden Auto und dem parkenden Auto auf der rechten Seite. Das Bild ist nicht gestellt, ich fotografierte dort bloß ein paar Minuten, bis sich diese Situation ergab.

Ähnlich ist es in vielen Straßen in den Quadraten, wo geparkte Wagen nur eine schmale Fahrspur frei lassen und es Einbahnverkehr für Autos gibt, Fahrräder aber in beiden Richtungen fahren dürfen. Alle diese Straßen nutze ich als Radlerin als Einbahnstraßen, um unnötige Konflikte und Gefahren zu vermeiden. Die Regelung, Radfahrende in beide Richtungen zu erlauben, ist hier aus meiner Sicht ein schlechter Witz.

 

Wie wäre Sicherheit für Radfahrende in den dargestellten Fällen zu gewährleisten?

Eine rücksichtsvolle, anständige Lösung wäre, dass Autofahris anhalten, um entgegenkommende Radfahris vorbeizulassen. Manche tun dies auch. Viele aber nicht. Es ist praktisch nicht möglich, in diesen Situationen als Radli sein Recht einzufordern. Öffentlichkeitskampagnen, die Autofahrende zu mehr Rücksicht auffordern, sowie Sensibilisierung gegenüber diesem Thema im Fahrunterricht könnten helfen, aber nur auf lange Sicht. Zu sehr ist die Kultur der Oberhoheit aller Autofahrenden in unserer Gesellschaft verankert.

Als kurzfristige persönliche Lösung meide ich gefährliche Stellen, wenn mir Konflikte dort zu viel werden. Dies ist aber nur eine Notlösung, denn sie schränkt meine Mobilität per Fahrrad ein. Eine Stadt, die den Radverkehr fördern will, sollte diese Art Lösung nicht wollen.

Mein Vorschlag: Parkplätze an diesen Stellen entfernen, weil sie den fließenden Verkehr blockieren. Außerdem meine ich, dass selbst bei einer Verminderung der Gesamtzahl der Parkplätze mehr Parkplätze für Menschen mit Behinderungen und für den Lieferverkehr geschaffen werden sollten.

Eine Stadt braucht Platz für den fließenden Verkehr einschließlich ÖPNV, Radverkehr und Lieferverkehr, und natürlich für den Fußverkehr (denn ohne den gibt es überhaupt keinen Verkehr) – und erst danach für geparkte Autos.

In Mannheim habe ich dagegen leider den Eindruck, dass zu oft den geparkten Autos die höchste Priorität eingeräumt wird.

 

 

 

Stille

Das Mural „Silence“, die Stadt (Mannheim) und das Glück der Vielfalt

 

Ich habe mich im letzten Jahr entschlossen, bei den Kommunalwahlen in Mannheim im Juni dieses Jahres für Bündnis 90/Die Grünen zu kandidieren. Ich freue mich, dass die Grünen mich gewählt haben, auf dem Listenplatz 17 für den Gemeinderat zu kandidieren.

Um interessierten Wählis meine Standpunkte und Sichtweisen besser darstellen zu können, gebe ich meinem Blog einen Neustart. (Zu der -i-Endung von Wähli, siehe den Beitrag „Aus halbfremden Augen“.)

Bevor ich aber einen neuen Blog-Eintrag verfasste, wollte ich ein neues Header-Bild für meine Webseite aussuchen. Bisher war da ein Bild von Wolken, die bei Sonnenaufgang rosafarben leuchten. Aber ich wollte jetzt ein Foto, das etwas darstellt, das für mich in Mannheim schätzenswert ist. Ich schaute mir dazu Fotos an, die ich letzten März auf einem Streifzug durch die Stadt gemacht hatte. Das Foto, das mir am meisten gefiel, habe ich im Header verwendet. Hier das komplette Foto:

 

Es ist eins der Murals des Mannheimer Projekts Stadt Wand Kunst – einem Projekt, in dem jedes Jahr neue Murals entstehen an Mannheimer Fassaden. Es sind interessante Kunstwerke, die dem Besuchi schon im Hauptbahnhof begegnen, und immer wieder an verschiedenen Stellen in der Stadt zum Denken oder zum erneuten Schauen anregen. Ich betrachte es als ein gelungenes multikulturelles Projekt, da Werke von Künstlis aus vielen verschiedenen Hintergründen dabei sind. Außerdem ist es inklusiv, da jeder Mensch, der in der Stadt unterwegs ist, diese Kunstwerke anschauen kann. Das Projekt ist für mich ein Sinnbild dessen, was eine Stadt sein kann und soll: ein Ort, wo Menschen vieler verschiedener Herkünfte aufeinander treffen, miteinander ins Gespräch kommen, neue Ideen entwickeln, Neues schaffen, sich gegenseitig bereichern. Solche Orte der Begegnung waren Städte schon seit den allerersten Städten der Menschheit. Dies, und nicht die Bevölkerungszahl, unterscheidet eine Stadt von einem Dorf. Ich freue mich in Mannheim zu leben, das in diesem Sinne Stadt ist, wo ich um mich her viele Sprachen höre, nicht nur eine.

Aber zurück zum Bild. Was macht diese Frau mit der Glocke, eingezwängt unter dem Hausdach in O4? Wozu regt sie uns an mit dem Wort „Silence“ an der verkehrsreichen Kunststraße, wo man selten der dem Verklingen eines Glockenschlags folgenden Stille lauschen kann? Was will sie uns sagen, dort wo sie steht, über Bücher Bender und direkt gegenüber vom erotic store?

Jede Betrachti kann zu eigenen Antworten kommen – das liegt in der Natur jedes Kunstwerks. Doch setzen wir uns auch mit den Künstlis auseinander, die das Werk geschaffen haben! Geschaffen wurde es, wie mehrere weitere Murals in Mannheim auch, von dem in Mannheim lebenden Duo Sourati. Dies sind Mehrdad Zaeri, der aus Isfahan stammt, und Christina Laube, eine deutsche Fotografin, Autorin und Buchillustratorin. Zaeri flüchtete mit seiner Familie aus Khomeinis Iran nach Deutschland, arbeitete einige Zeit in Heidelberg als Taxifahrer und wurde schließlich Künstler. Die beiden haben noch viele andere Werke geschaffen, zum Beispiel Imagine in Amman, Jordanien, mit Unterstützung des Projekts Stadt Wand Kunst. Dieses Werk ermutigt Frauen, zu träumen und nicht zu verzagen. Im Jahr 2022 haben sie zusammen eine Installation in Göppingen geschaffen, „Dedicated to Tati“, gewidmet ihrer Freundin Tatiana, wie sie ihnen als Augenzeugin über den Angriff Russlands auf Kiew berichtet hatte.

Sind Souratis Bilder nicht beeindruckende Beispiele dafür, was der Austausch über Grenzen alles für uns tun kann? Welche Bereicherung es ist, wenn Menschen aus fernen Ländern zusammen kommen?

Ich finde es einerseits unendlich traurig, dass Menschen wie Mehrdad Zaeri aus dem Iran fliehen mussten, weil der Iran schon so lange unter dem Regime von erzkonservativen Klerikern leidet (und zuvor unter dem mörderischen und unterdrückerischen Regime des Schahs). Im Iran gibt es unzählige kreative Menschen, von denen manche trotz aller Unterdrückung Bücher schreiben, Filme machen und sich anderweitig für ihre Freiheit engagieren. Zum Beispiel die zum Tode verurteilte lesbische Aktivistin Sareh Sedighi-Hamadani, die vorigen Monat nach Deutschland ausreisen durfte. Im Iran scheuten sich viele Tausende Menschen nicht, seit dem September 2022 trotz drakonischer Vergeltungsaktionen auf die Straße zu gehen für Frau, Leben, Freiheit. Im Jahr 2009 gingen massenweise Menschen auf die Straßen als Teil der „Grünen Bewegung“ um Hossein Mussawi, und forderten freie Wahlen und Bürgerrechte. Dies sind nur ein paar Beispiele des Widerstands. Der Iran ist zudem die Heimat verschiedener religiöser Traditionen, wie zum Beispiel des Zoroastrismus, der Bahá’i-Religion und der Mystik der Sufis, die durch die jetzige Regierung unterdrückt werden. Welch eine Bereicherung wäre es doch, nicht nur für den Iran, sondern für die ganze Welt, wenn all diese Menschen sich in Freiheit ausdrücken könnten!

Andererseits bin ich heilfroh, dass Deutschland ein Land ist, wo Menschen Zuflucht suchen und finden vor tödlichen und repressiven Zuständen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Aus Deutschland mussten vor nicht allzu langer Zeit unzählige Menschen fliehen, um nicht vergast oder auf andere Weise umgebracht zu werden. Ich bin zutiefst dankbar, dass Deutschland trotz dieser Geschichte ein Land geworden ist, auf das sich die Hoffnungen vieler Menschen aller möglichen Herkünfte richten, dass sie sich hier ein selbstbestimmtes Leben aufbauen können. Ich will, dass dies so bleibt und bin erschrocken über all jene, die diese Errungenschaft Deutschlands zunehmend lautstark und schrill ablehnen.

Muss es aber so sein, dass Menschen aus manchen Ländern fliehen müssen, um Schutz in anderen zu finden? Können wir uns eine Zukunft vorstellen, in der die Menschenrechte überall respektiert werden, Menschen emigrieren können, ohne dazu gezwungen zu werden, und vielfältige spannende Begegnungen ermöglicht werden?

Solange all dies ein Wunschtraum ist, ist es für mich nicht verwunderlich, wenn die Frau mit der Glocke keinen Raum findet, um aufrecht zu stehen, und wenn wir die Stille nicht hören, die auf das Verklingen ihrer Glocke folgt.
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P.S.: Für interessierte Lesis: Link zum Bericht von Correctiv über die Beratungen von Leuten aus der AfD und deren Umfeld, wie sie Massendeportationen organisieren wollen.

Ich bin eine Trau!

Ich bin eine Trau.

Was soll das bedeuten?

Trau – das ist mein Begriff für trans Frau, aber in der Form eines einfachen statt eines zusammengesetzten Wortes.

Für mich bildet „Trau“ genau ab, was ich bin. Ich bin kein „Mann“, da ich mich diesem Geschlecht kaum zugehörig fühle, da ich viele Männern zugeschriebene Gefühle einfach nicht habe, da ich mich Frauen stärker verbunden fühle als Männern, da ich mich nur in Frauenkleidung wohl fühle. Ich bin aber auch keine „Frau“ da das Frau-Sein mit vielen Erfahrungen verbunden ist, die ich nie hatte und nie werde haben können. Das Sein kann nicht vom eigenen Körper getrennt werden, und ich habe nun mal keinen Frauenkörper. Ich habe nie eine monatliche Blutung gehabt, ich hatte nie die Hoffnung oder Erwartung oder Angst, schwanger zu werden, ich brauchte mich nie mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, ein Kind auf die Welt zu bringen. So gut wie alle Frauen müssen sich mit diesen Dingen auseinandersetzen, egal ob sie Kinder auf die Welt bringen wollen oder nicht. Diese und viele andere Erfahrungen vom Frau-Sein abzutrennen, ist letztlich eine Negierung des Körpers und reduziert das Sein auf reine Geistigkeit. Wenn Frau oder Mann-Sein auf das bloße Gefühl reduziert wird, sich als Frau oder Mann zu fühlen, verlieren die Wörter „Frau“ und „Mann“ weitgehend ihren Inhalt.

Allerdings kann das Frau oder Mann-Sein auch nicht alleine auf den Körper reduziert werden. Wären Menschen rein biologische Wesen, ohne Kultur und ohne Gesellschaft, ohne gesellschaftliche Rollen und Traditionen, ohne Recht und Gesetz, dann könnte man die Begriffe „Frau“ und „Mann“ auf die biologische Funktion der Reproduktion reduzieren. Frauen sind aber nicht bloße „Weibchen“ und Männer nicht bloße „Männchen“, sondern Menschen werden in ihren Familien, Gesellschaften, Kulturen entsprechend den vorherrschenden Genderrollen erzogen. Deshalb gibt es Vorstellungen, wie sich eine „rechte“ Frau und ein „rechter“ Mann zu verhalten haben. Wer sich in dieses Schema nicht einfügen kann, sich lieber nach vielen Vorgaben für das „andere“ Geschlecht richtet, oder sich lieber im Körper des „anderen“ Geschlechts sähe, gehört einfach nicht in diejenige Gender-Kategorie, die dem körperlichen Geschlecht entspricht.

Doch auch die Begriffe trans Frau oder Transfrau gefallen mir nicht so recht. Mit den Unterschieden zwischen diesen Schreibweisen möchte ich mich hier nicht aufhalten – in der Aussprache sind sie sowieso kaum zu unterscheiden. Für mich suggerieren diese Begriffe, dass ich aus zwei gegensätzlichen Teilen bestehe. Ein weiblicher Geist in einem männlichen Körper. Eine Zweiheit und keine Einheit. Eine Frau, die danach strebt, aus ihrem männlichen Körper auszubrechen, es aber nicht so ganz hinbekommt. Eine Person, die immer kämpfen muss, ihre Weiblichkeit herauszustellen, die gegen ihren eigenen Körper kämpfen muss, um möglichst wie eine Frau auszusehen. Damit können verbunden sein Operationen, lebenslange Hormonbehandlung, Entfernung der Gesichtshaare, die womöglich alle paar Jahre wiederholt werden muss, langwieriges Stimmtraining mit nicht ganz überzeugenden Ergebnissen, tägliche Kosmetik. Feministinnen haben schon lange kritisiert, dass Frauen dazu gedrängt werden, ihre Körper an modische und von Männern definierte Schönheitsideale anzupassen und sich dadurch selbst Gewalt antun. Ist es dann sinnvoll, wenn trans Frauen noch stärker an ihren Körpern arbeiten!

Das Wort „Trau“ birgt für mich aber großes Potenzial. Es geht mir darum, eine neue Einheit zu finden, meinen eigenen Weg. Dass eine Person mit „Männergesicht“ „Frauenkleidung“ trägt braucht kein Gegensatz zu sein – sondern eine Person mit „Trauengesicht“ trägt „Trauenkleidung“. Mit meiner „Trauenkleidung“ kann ich Elemente der Damenmode übernehmen und an meinen Körper anpassen, dabei die natürliche Eleganz und Anmut meines Körpers hervorheben, ohne mich danach richten zu müssen, welche Schönheitsideale die Modeindustrie für Frauen geschaffen hat. Ich kann bestimmte „weibliche“ Elemente sogar stärker pflegen, als Frauen dies gewöhnlich tun (zum Beispiel trage ich im Gegensatz zu den meisten Frauen, die ich kenne, selten Hosen). Ich habe keinen Geist einer Frau im Körper eines Mannes, sondern einen Trauengeistkörper. Auf geistiger Ebene bin ich „Trau“, weil ich nicht ebenso denke und fühle wie Frauen – aber auch nicht so wie Männer, sondern eben wie Trauen. Mein körperliches Wohlgefühl in Frauenkleidern trieb mein wachsendes Bewusstsein an, Trau zu sein – in dieser Hinsicht führte mein Körper und mein Verstand folgte. Ich freue mich an denjenigen meiner körperlichen Eigenschaften, die eher typisch für Frauen als für Männer sind. Ich versuche nicht, meinen Körper dazu zu zwingen, ein Frauenkörper zu werden, sondern ich entwickle mich in Körper und Geist als Trau. Sofern ich meinen Körper modifiziere, richte ich mich nach meiner Vorstellung, wie ich als Trau sein will.

Wenn ich ganz einfach und in aller Öffentlichkeit Trau bin, brauche ich niemandem etwas vorzumachen. Ich verberge nicht, das ich kein „rechter“ Mann bin und versuche nicht, wie eine „wirkliche“ Frau zu erscheinen (sogenanntes „passing“), denn beides würde sehr große Anstrengungen und letztlich Selbstverleugnung von mir verlangen.

In anderen Worten, ich bin vollkommen „out“. Ich bin „out“ wie eben alle Frauen als Frau „out“ sind und alle Männer als Mann. Wie alle Kopftuch tragende Muslimas und Kippa tragende Juden. Wie alle Ausländis, die die Sprache des Landes, in dem sie leben, mit fremder Aussprache oder mit beschränktem Wortschatz sprechen. Wie alle Personen, deren Hautton in dem Lande, in dem sie leben, als dunkler als „normal“ betrachtet wird. Wie alle Menschen, die an einen Rollstuhl gebunden sind. Wie alle Menschen, die sich in gewissen Kontexten nicht hinreichend „gebildet“ ausdrücken. Wir alle fallen auf die eine oder andere Weise in gewissen Situationen als irgendwie anders auf. Das ist an sich nicht problematisch. Wir Menschen beobachten einander ständig und bemerken Unterschiede – wir können gar nicht anders. Und Unterschiede gibt es immer, da wir keine Klone voneinander sind.

Traumatisch und problematisch ist es, als minderwertig behandelt, ausgegrenzt, angepöbelt oder gar gewalttätig angegriffen zu werden wegen einer „Andersartigkeit“ – sei es das Geschlecht, die kulturelle oder nationale Herkunft, die Hautfarbe, die Religionszugehörigkeit, die sexuelle Orientierung usw. Glücklicherweise bin ich bisher nie angegriffen worden weil ich Trau bin. Vielerorts hätte ich dieses Glück nicht. Wie dem auch sei, ist es für mich jetzt selbstverständlich, „out“ zu sein. Leider ist es noch immer nicht selbstverständlich, dass Menschen, die sichtbar „anders“ sind, als gleichwertig behandelt werden.

Freiere Märkte verbreiten

Im letzten Blogbeitrag habe ich dafür plädiert, die Bedingungen für „relativ freie Märkte“ in der Welt zu verbreiten – definiert als Märkte, bei denen alle Beteiligten frei an der Gestaltung der Regeln mitwirken können. Ich stellte die Frage, wie Länder mit relativ freien Marktbedingungen ihre Handelsbeziehungen so organisieren können, dass sich die Bedingungen für größere Freiheit tendenziell immer weiter ausbreiten und nicht zurückgedrängt werden.

Ein Versuch in diese Richtung ist die Verabschiedung von Lieferkettengesetzen, wie zum Beispiel das deutsche „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ (das zum 1.1.23 in Kraft getreten ist) und die EU „Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit.“ Letztere liegt als Entwurf vor; wenn sie in Kraft tritt, werden die 27 EU-Mitglieder entsprechende Gesetze erlassen müssen. Das Ziel ist, Unternehmen über einer bestimmten Größe zu verpflichten, dafür zu sorgen, dass die Produkte, die sie aus dem Ausland importieren, unter einigermaßen fairen Arbeits- und Umweltbedingungen hergestellt worden sind. Der Entwurf der EU-Richtlinie verlangt von den Unternehmen, die Produktionsbedingungen entlang der gesamten Lieferkette zu beachten; das deutsche Gesetz erfordert nur, dass sie die direkten Zulieferer beachten. Dies sind begrüßenswerte Initiativen, trotz ihrer Beschränkungen (zum Beispiel dürfte die Überwachung schwierig sein, kleinere Unternehmen sind ausgenommen und daher ist ein Großteil der Importe überhaupt nicht betroffen, und das Finanzwesen ist praktisch gar nicht betroffen). Einige Links über diese Gesetzesinitiativen sind am Ende dieses Blogbeitrags aufgeführt.

Allerdings haben selbst die besten Lieferkettengesetze ein wichtiges Manko: sie ziehen vorwiegend private Firmen zur Verantwortung. Folglich müssen Privatfirmen Aufgaben übernehmen, für die sie nicht geschaffen wurden (zum Beispiel Überwachung der Arbeitsbedingungen unter ihren Zulieferern) und die sie daher wahrscheinlich schlecht und mit wenig Engagement erledigen werden. Außerdem können (und sollen) selbst die größten Unternehmen nicht für die Gesetzgebung und die Überwachung der Gesetze eines Landes verantwortlich gemacht werden. Wie die offizielle englischsprachige Version der FAQ des BMZ mitteilt, „Es wird von keinem Unternehmen erwartet, die rechtlichen und politischen Bedingungen des Gastlandes zu verändern.“ Die Verbreitung relativ freier Märkte in andere Länder betrifft aber notwendigerweise die Verantwortlichkeiten von Regierungen: Gesetze zum Schutz von Meinungsfreiheit, Umwelt, Rechten arbeitender Menschen usw. zu erlassen, durchzusetzen und selbst zu befolgen.

Deshalb schlage ich vor, zusätzlich zu Lieferkettengesetzen, auf dem Ansatz von Antidumpingzöllen aufzubauen. Laut Regeln der Welthandelsorganisation dürfen importierende Länder diese Zölle erheben auf unfair subventionierte Produkte, die das exportierende Land im Ausland billiger verkauft als zuhause (und damit meist auch unter den Produktionskosten). Diese übermäßig billigen Preise machen es den Wettbewerbern schwierig oder unmöglich, die betreffenden Produkte auf verantwortliche Weise herzustellen und zu verkaufen. Die Zölle werden rechtfertigt als Verteidigung gegen solchen unfairen Wettbewerb. Unten habe ich ein paar Quellen zu Antidumpingzöllen aufgeführt.

Allerdings werden Antidumpingzölle oft recht willkürlich verhängt (gegen manche Länder aber nicht gegen andere), und die Regierung des importierenden Landes kann die Erlöse verwenden wie sie will. Sie sind deshalb eher eine Strafmaßnahme statt einer Maßnahme, wirklich freie und faire Marktbedingungen zu verbreiten.

Stattdessen schlage ich vor, Antidumpingzölle an klar und transparent dargestellte Kriterien zu binden, und die erzielten Erlöse innerhalb des exportierenden Landes für die Beseitigung der Ursachen für die Zölle zu verwenden. Ich bezeichne solche Zölle als „Antidumpingzölle für Demokratie“, kurz ADD. Sofern die Regierung eines exportierenden Landes nicht erlaubt, die Mittel auf diese Weise auszugeben, können sie in einem anderen Land verwendet werden, gegen das ähnliche Zölle verhängt werden. Unter keinen Umständen dürfen diese Mittel im importierenden Landes ausgegeben werden.

Als Beispiel: Land X exportiert Kleidung nach Land Y. Die Herstellung dieser Kleidung führt zu Wasserverschmutzung von einer Art, die in Land Y nicht erlaubt ist. Außerdem werden Gewerkschaften unterdrückt, weshalb die Arbeitslöhne sehr niedrig sind. Deshalb können Firmen in Land X Kleidung so billig produzieren, dass Firmen in Land Y nicht konkurrieren können. Außerdem können Firmen in X, die kostspieligere, umweltschonende Produktionsmethoden verwenden, und die ihre Arbeitis besser bezahlen, innerhalb X nicht konkurrieren. Klassische Antidumpingzölle würden lediglich der gesamten Kleidungsindustrie in X schaden.

Wenn jedoch Land Y (und hoffentlich auch weitere importierende Länder) ADD erheben würde, dann würden die erzielten Erlöse im Land X ausgegeben um u.am.:

  • Gesetze zum Schutz der Wasserqualität zu erlassen, und um Behörden zu finanzieren, die die Wasserqualität überwachen und die Befolgung der Gesetze durchsetzen,
  • die Einführung umweltfreundlicherer Technologien in der Textil- und Bekleidungsindustrie zu finanzieren (z.B. durch niedrig verzinste Darlehen),
  • Gesetze zur Unterstützung von freien Gewerkschaften zu erlassen und umzusetzen,
  • Gewerkschaften (vor allem in der Textil- und Bekleidungsindustrie) direkt finanziell zu unterstützen,
  • Gesetze zur Verbesserung der Arbeitskonditionen zu erlassen und umzusetzen, einschließlich der Mittel, um Arbeitsplätze regelmäßig zu inspizieren.

Je genauer die Gründe für die ADD artikuliert werden, um so zielgerichteter können die Mittel für Maßnahmen verwendet werden, die die ADD in Zukunft unnötig machen. Entsprechend der Umsetzung werden die Zölle vermindert oder ganz abgeschafft.

Wenn die Regierung des Landes X die Vergabe von Mitteln für diese Zwecke ablehnt, dann können sie stattdessen in einem anderen Land Z mit ähnlichen Umwelt- und Arbeitsbedingungen wie in Land X verwendet werden. So wird der Wandel in Land Z statt in Land Y unterstützt.

Damit die ADD ihre Ziele erreichen, müssen sie bestimmten Standards der Fairness und Gerechtigkeit entsprechen, die vor einem internationalen Gericht eingeklagt werden können. Zum Beispiel:

  • Ein Land darf verschiedenen Handelspartnern (Ländern oder Firmen) nicht offensichtlich verschieden strikte Standards abverlangen.
  • Ein Land darf anderen Ländern keine Standards auferlegen, die es selbst nicht befolgt.
  • Alle ADD müssen im Völkerrecht begründet werden, wie zum Beispiel in der Universellen Menschenrechtserklärung und anderen internationalen Konventionen, die von einer großen Zahl von Ländern unterzeichnet und ratifiziert worden sind.

Das heißt, die ADD müssen innerhalb eines institutionellen Rahmens eingeführt werden, der ihren willkürlichen Gebrauch vermeidet, der Standards setzt für die ADD, und der betroffenen Parteien ermöglicht, vor ein Gericht zu ziehen. Eine geeignete institutionelle Struktur müsste aufgebaut werden, entweder durch Anpassung der Zuständigkeiten von existierenden Organisationen wie der Welthandelsorganisation oder der Internationalen Arbeitsorganisation, oder durch Gründung einer neuen Organisation mit eigenem Mandat.

All dies ist heute Zukunftsmusik. Aber ein institutioneller Rahmen dieser Art ist meiner Meinung nach notwendig, um relativ freie Märkte in der ganzen Welt zu verbreiten. Er würde Ländern ein Mittel geben, eigene Gesetzgebung zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt gegen zerstörerischen Wettbewerb zu verteidigen. Dasselbe Mittel würde anderen Ländern helfen, eine fortschrittliche Agenda umzusetzen. Es würde Handelsbeziehungen stärken unter all den Ländern, die bereit sind, Wandel zu mehr Demokratie, Schutz der Menschenrechte und mehr Umweltschutz zu fördern. Mit der Zeit würden Antidumpingzölle für Demokratie den Wandel in der ganzen Welt unterstützen.

 

 

Quellen über Lieferkettengesetze

Initiative Lieferkettengesetz

Initiative Lieferkettengesetz

April 2022: Nachhaltige unternehmerische Sorgfaltspflicht: Stellungnahme zum Vorschlag der EU-Kommission

Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Bundesgesetzblatt

Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten. Vom 16. Juli 2021

Europäische Kommission

Vorschlag für eine RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937

Siehe auch über die Schwierigkeiten, Lieferketten zurück zu verfolgen:

Kelly Oakes, 7.2.2023, Why fabric fraud is so easy to hide, BBC.

 

Quellen über Antidumpingzölle

Generalzolldirektion Deutschland. Antidumping

Europäische Kommission. Antidumpingzölle

 

Freie Märkte

In meinem vorigen Beitrag habe ich dargelegt, die Europäische Union könne freiheitliche Werte der liberalen Demokratie und der Menschenrechte nur überzeugend nach außen vermitteln, wenn sie klarmacht, „dass sie Demokratie und Menschenrechte im Rest der Welt (und nicht nur daheim) höher schätzt als die niedrigen Preise importierter Güter.“ Bevor ich mich der Frage widme, wie sie das machen kann, möchte ich in meinem heutigen Beitrag ausarbeiten, wie die Werte der Demokratie und der Menschenrechte mit denen des „freien Marktes“ und der „Wettbewerbsfähigkeit“ zu verbinden sind.

Wettbewerbsfähigkeit wird gemeinhin verstanden als die Fähigkeit, ein Produkt zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen als die Konkurrenz (zum Beispiel als Folge geringerer Produktionskosten), oder die Fähigkeit, qualitativ bessere Produkte zu einem höheren Preis zu verkaufen (zum Beispiel als Folge innovativer Technik). Der „freie Markt“ wird oft darauf reduziert, dass Preise nicht vom Staat vorgegeben werden, dass die meisten Produkte von Privatunternehmen hergestellt und vertrieben werden, und dass mindestens zwei konkurrierende Unternehmen sehr ähnliche Produkte anbieten. Allerdings sind selbst nach solchen minimalen Definitionen viele Märkte alles andere als frei, da zum Beispiel ein sehr großer Teil der fossilen Brennstoffe von Staatsunternehmen gefördert und vertrieben wird, und in vielen Sektoren Monopole oder quasi-Monopole allen anderen Unternehmen ihre Konditionen aufzwingen (so zum Beispiel im Großhandel vieler landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Agrochemikalien und Saaten).

Es gibt jedoch auch anspruchsvollere Maßstäbe der „Freiheit“ des Markts, nach denen es nur wenige wirklich freie Märkte gibt. Ist der Buchhandel „frei“ wenn Amazon sein europäisches Hauptquartier in Irland einrichtet und dadurch prozentual wesentlich geringere Steuern zahlt als die vielen kleineren Buchhandlungen in ganz Europa? Können Arbeitis frei den Preis ihrer Arbeitskraft aushandeln, wenn sie ohne Erwerbsarbeit hungern müssen, die Unternehmis jedoch leicht andere Leute finden können – eventuell in anderen Ländern und Kontinenten? Können Landwirte frei entscheiden, ihr Land schonend zu bearbeiten, ihre Nutztiere einigermaßen artgerecht zu halten, wenn sie deshalb etwas teurer produzieren als die Konkurrenz? Der sogenannte freie Markt ist voller Zwänge, denen sich die wenigstens Akteure am Markt entziehen können. Nichts zeigt dies offensichtlicher als Businessratgeber, die mit äußerst autoritärer Sprache darlegen, was man alles tun „muss“, um am Markt zu bestehen. Letztendlich bestimmen die rücksichtslosesten Marktakteure am Rande der Legalität die Preise und damit die Messlatte, nach denen sich alle anderen richten müssen.

Manche Befürwortis des „freien“ Marktes wollen die Märkte durch Abschaffung möglichst aller gesetzlichen Regeln „befreien.“ „Deregulation“ nennt sich das. Soweit diese Bestrebungen erfolgreich sind, bedeutet dies aber, dass alles andere dem Markt geopfert wird: saubere Luft und sauberes Wasser, die Fruchtbarkeit der Böden, die körperliche und seelische Gesundheit und die Altersvorsorge der arbeitenden Menschen, und vieles andere mehr. Denn wer sich (unter der Voraussetzung fehlender Regeln) um all diese Dinge nicht schert, kann seine Produkte zu einem geringeren Preis verkaufen und gewinnt somit Marktanteile. Daran ändert sich nichts, wenn wohlsituierte und -meinende Menschen versuchen, möglichst sozial und ökologisch korrekt einzukaufen. Solches Verhalten ermöglicht nur Nischenmärkte für die so hergestellten Waren; der Massenmarkt wird überhaupt nicht betroffen.

Tatsächlich sind Gesetze und Regeln notwendig, damit der Wettbewerb die Unternehmen dazu bewegt, Ressourcen nicht nur effektiv zu nutzen, sondern sie auch zu pflegen, menschliche Arbeitskraft nicht nur irgendwie nützlich einzusetzen, sondern sich auch um die Menschen zu kümmern. Ungeregelter Wettbewerb führt zu einer Mentalität des Nehmens ohne je etwas geben zu wollen. Das führt schließlich zum Ruin aller Beteiligten, da die ökologischen und sozialen Lebensgrundlagen zerstört werden – ohne die übrigens auch kein Markt existieren kann. Das heißt, ohne Regeln geht es nicht.

Je mehr aber auf dem Spiel steht, um so mehr Regeln werden gebraucht. Eine Analogie zum Sport kann das verdeutlichen. Ein Fußballspiel auf dem Bolzplatz in der Nachbarschaft erfordert nur wenige Regeln, zwei Rücksäcke können als Begrenzung des Tors dienen, Schiedsrichter werden nicht gebraucht, Abseitsregeln werden sehr lässig gehandhabt, usw. Je weiter nach oben es geht, das heißt zu lokaler und regionaler Liga, 3. bis 1. Bundesliga, bis hin zum internationalen Fußball, um so umfangreicher werden die Regeln. Vier Offizielle, Videobeweis, akribische Bewertung jedes Handspiels und jeder Abseitsstellung usw., gibt es nur in den höchsten Ligen, wo Millionenbeträge vom Ausgang jedes Spiels abhängen. Ähnlich ist es bei Märkten. Je mehr weltumspannenden Handel es gibt, mit einer schier unendlich anmutenden Vielzahl an Produkten, deren Herstellungsmethoden aus der Distanz kaum nachvollzogen werden können, um so wichtiger ist ein umfangreiches Regelwerk.

Frei ist ein Markt also nicht, wenn es keine Regeln gibt. Sondern: frei ist ein Markt, wenn alle Beteiligten frei an der Aushandlung der Regeln teilnehmen können. Diese freie Aushandlung der Regeln ist nur möglich, wenn alle das Recht auf freie Meinungsäußerung haben, es Pressefreiheit gibt, wenn alle Menschen sich frei zu Gewerkschaften, Parteien, Verbänden, Vereinen, Interessengemeinschaften usw. zusammenschließen können, um ihre Rechte auch kollektiv zu vertreten, wenn die Gerichte und die Kontrollbehörden dafür sorgen, dass die vereinbarten Regeln auch eingehalten werden, wenn es Schutz gibt vor politischer Gewalt. Das heißt, eine freie Aushandlung der Marktregeln ist nur möglich unter den Bedingungen eines demokratischen Gemeinwesens mit einer verlässlichen Rechtsordnung. Derzeit werden diese Bedingungen nur in demokratischen Rechtsstaaten erfüllt. Daraus folgt: wo es keinen demokratischen Rechtsstaat gibt, gibt es keinen freien Markt.

Ich wiederhole: wo es keinen demokratischen Rechtsstaat gibt, gibt es keinen freien Markt.

Oder noch etwas anders ausgedrückt: Demokratie ist eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für einen freien Markt. Eine ausreichend Bedingung ist sie nicht, denn erstens garantiert die Existenz einer Demokratie noch lange nicht die adäquate politische und gesellschaftliche Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen, und zweitens sind Aushandlungsprozesse dieser Art sehr langwierig und können Generationen in Anspruch nehmen. Drittens müssen Marktbedingungen immer wieder neu ausgehandelt werden wegen technischen Wandels, veränderter Verfügbarkeit der verschiedensten Ressourcen, veränderter Gefährdungslage der Ökosystems usw.

Das heißt, freie Märkte sind eine Utopie, von der wir sehr weit entfernt sind. Sofern wir am Konzept des freien Marktes festhalten, lohnt es sich, daran zu arbeiten, Märkte immer ein bisschen freier zu gestalten. Gleiches gilt im Übrigen auch für alle anderen gesellschaftlichen Institutionen, die unser Zusammenleben regeln – jegliche Institution kann nur frei sein, wenn die sie betreffenden Regeln frei ausgehandelt worden sind und neu verhandelt werden können. Es wird ja längst nicht alles über Märkte geregelt. Die Verkehrsinfrastruktur wird großenteils vom Staat verwaltet, öffentlicher Nahverkehr wird von regionalen Verkehrsverbünden betrieben. Gesetzliche Sozialversicherungen agieren in einem staatlich vorgegebenen Rahmen, in dem Marktprinzipien nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vieles machen wir in Eigenversorgung entweder individuell oder in Haushalten. Universelle Schulbildung ist erst durch öffentliche Schulen ermöglicht worden. Zur Freiheit eines Landes gehört deshalb, dass das politische System es erlaubt, frei auszuhandeln, welche Lebensbereiche durch welche gesellschaftlichen Institutionen geregelt werden.

Im internationalen Handel werden Güter und Dienstleistungen angeboten, die unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen hergestellt worden sind. In vielen Ländern haben diese Voraussetzungen nichts oder nur sehr wenig gemein mit „freien Märkten“ wie ich sie hier definiert habe. Ohne verbindliche Regeln zum Schutz der Umwelt und der Menschenrechte können aber die Produkte, die ohne Rücksicht auf Umwelt und Menschenrechte hergestellt worden sind, zu einem niedrigeren Preis angeboten werden. Deren Verkäufer genießen einen Wettbewerbsvorteil.

Warum gibt es trotzdem manche Länder mit intern relativ „freien“ Märkten? Weil diese Länder eine privilegierte Stellung im Welthandel haben, die sie meist unter anderem einer Geschichte des Kolonialismus zu verdanken haben. Sie können sich dem zerstörerischen Wettbewerb einigermaßen entziehen – zumindest zeitweilig.

Freiheit kann aber kein Luxus sein, denn Luxus ist ein Privileg und keine Freiheit.

Deshalb sollten sich die Menschen in den Ländern mit relativ freien Marktbedingungen Gedanken machen, wie sie den Handel mit weniger frei verfassten Ländern so gestalten können, dass sich die Bedingungen für größere Freiheit tendenziell immer weiter ausbreiten und sich nicht zurückziehen.

An diese Feststellung möchte ich in meinem nächsten Beitrag anknüpfen.

Europäische/westliche Werte

Europäische/westliche Werte

Am 10. Oktober hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell eine Ansprache gehalten bei einem Treffen der Delegierten, die die EU in Ländern in der ganzen Welt repräsentieren. Ich halte diese Rede bedeutsam zugleich dafür, was Borrell sagte, wie dafür, was er verschwieg.

In meinem heutigen Beitrag verwende ich meine Übersetzung von Auszügen aus dem offiziellen englischen Text dieser Rede (die auch als Video verfügbar ist), um einige Überlegungen anzustellen über die Werte, die die Europäische Union dem Rest der Welt vermittelt. Diese Werte werden oft als „europäische Werte“ bezeichnet und sind mehr oder weniger gleichbedeutend mit „westlichen Werten“.

Nahe dem Anfang seiner Rede sagte Borrell:

Unser Wohlstand ist begründet worden auf billiger Energie aus Russland. Russisches Gas – billig und angeblich preiswert, sicher und verlässlich. Wie sich herausgestellt hat, ist dies nicht der Fall. Und Zugang zum großen Markt Chinas, für Exporte und Importe, für Technologietransfer, für Investitionen, für billige Waren. Ich glaube, dass die chinesischen Arbeiter mit ihren niedrigen Löhnen Besseres und mehr getan haben, die Inflation zu bekämpfen, als alle Zentralbanken zusammen.

Es wäre treffender, diese Aussage über China auszuweiten und zu sagen, dass der europäische (und nordamerikanische) Wohlstand zu einem sehr großen Teil auf schlecht bezahlter Arbeit in Asien, Afrika und Lateinamerika gründet, wodurch Europa in der Lage ist, Rohmaterialien sowie arbeitsintensive Industriegüter billig aus diesen Ländern zu beziehen. China sticht hervor weil selbst seine technisch anspruchsvollen Exporte weiterhin durch geringe Löhne einen Marktvorteil haben. Europäischer Wohlstand gründet sich auch außerdem auf Importen von fossilen Brennstoffen aus Russland wie auch autokratischen Regimen wie Saudi Arabien. In Hinsicht auf alle diese Länder richten sich „die Märkte“ (das heißt, die Marktteilnehmis1) nach den Preisen der Güter, nicht nach den Bedingungen, unter denen sie hergestellt wurden. Dadurch wird vielleicht die Inflation in Zaum gehalten, noch stärker aber die Löhne auch in den reichen Ländern.

Borrell besprach im Folgenden Europas Abhängigkeit von den USA in Bezug auf militärische Sicherheit. Vielleicht werde ich mich in einem zukünftigen Beitrag diesen Fragen zuwenden, aber hier überspringe ich diesen Teil um beim Thema der Beziehungen Europas und des Westens zum Rest der Welt zu bleiben. In diesem Zusammenhang sprach Borrell von der Kluft zwischen „Demokratien gegen Autokraten“, wobei er zugab, dass es „auf unserer Seite“ viele autokratische Regime gibt (dachte er dabei zum Beispiel an Orbans Regierung in Ungarn?). Selbstkritisch merkte er an:

Wir denken zu sehr intern und dann versuchen wir, unser Modell zu exportieren, aber wir denken nicht genug daran, wie andere diesen Modellexport sehen werden. Ja, wir haben den „Brüsseler Effekt“ und setzen weiterhin Standards, aber zunehmend meine ich, dass der Rest der Welt nicht mehr bereit ist, unserem Modellexport zu folgen. „Das ist ein Modell, das beste, also müsst ihr ihm folgen“. Aus kulturellen, historischen und wirtschaftlichen Gründen wird das nicht mehr akzeptiert.

Wir müssen besser zuhören. Wir müssen uns aufs „Zuhören“ einstellen gegenüber der anderen Seite – die andere Seite ist der Rest der Welt. Wir müssen empathischer sein. Wir tendieren zur Überbewertung von rationalen Argumenten. „Wir sind das Land der Vernunft“. Wir meinen, besser zu wissen, was im Interesse anderer ist. Wir unterschätzen die Rolle der Emotionen und der beständigen Attraktivität der Identitätspolitik.

Aber was genau ist das „europäische Modell“? Jahrhundertelang kolonisierten europäische Länder den Rest der Welt. Langsam, mit vielen Widerständen und Rückschlägen, führten sie im Inland repräsentative Demokratie ein. Das Wahlrecht wurde den Männern der Arbeiterklasse und Frauen erst dann gewährt, als starke politische Bewegungen kaum eine andere Wahl zuließen. Ähnliche Rechte wurden in den Kolonien aber nur sehr zögerlich zugelassen. Viele kolonisierte Länder mussten blutige Kriege kämpfen um ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Heute bedeutet das Bestehen auf niedrigen Preisen in Märkten mit halsabschneiderischer Konkurrenz, dass „wettbewerbsfähig“ zu sein allzu oft erfordert, Löhne so weit zu drücken, dass die arbeitenden Menschen davon nicht menschenwürdig leben können. Solche Löhndrückerei erfordert drastische Einschränkungen der gewerkschaftlichen Organisation, der Meinungs- und Pressefreiheit und anderer verwandter Freiheiten. Politische Repression ist allzu oft die Vorbedingung, um erfolgreich in Märkte einzudringen, die nach wie vor von Europa und Nordamerika dominiert werden. Ist das die bedeutung des „europäische Modells“?

Gegen Ende seines Vortrags sagte Borrell:

Wir müssen die Verbindungen zwischen politischer Freiheit und einem besseren Leben erklären. Wir Europäer haben diese außergewöhnliche Chance. Wir leben in der Welt, in diesem Erdteil wo politische Freiheit, wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Zusammenhalt am besten sind, die beste Kombination von all dem. Aber der Rest der Welt ist nicht so. Unser Kampf ist, besser zu erklären, dass Demokratie, Freiheit, politische Freiheit nicht etwas ist, das man gegen wirtschaftlichen Wohlstand oder sozialen Zusammenhalt tauschen kann.

Borrells Vergleich Europas mit dem Rest der Welt ist fragwürdig. Wenige Tage später verstärkte er ihn in einer weiteren Rede, in der er Europa mit einem Garten, den Rest der Welt mit einem Dschungel verglich. Dies führte zu diplomatischen Protesten, zum Beispiel durch die Vereinigten Arabischen Emirate. Seitdem hat er eine Entschuldigung und Klarstellung angeboten (siehe die Links unten).

War aber Europa nicht ein mächtiger Treiber, den „Rest“ zu einem „Dschungel“ zu machen und ihn so zu halten? Was haben die Länder Europas – und des “Westens” insgesamt – die letzten Jahrzehnte gemacht? Sie haben effektiv an den Rest der Welt kommuniziert, dass politische Freiheit, Wohlstand und sozialer Zusammenhalt für den “Westen” schön zu haben sind, aber dass sie für den “Rest” nicht wirklich wichtig sind. Wichtig ist, dass der “Rest” dem “Westen” Güter zu den richtigen (niedrigen) Preisen liefert (koste es, was es wolle), und dabei Lippenbekenntnisse ablegt für Ideen wie Demokratie und Menschenrechte. Also müssen sich zum Beispiel chinesische Machthaber Predigten über die Uiguren, über Tibet oder über Ai Weiwei über sich ergehen lassen, aber nach oder vielleicht schon vor den Predigten werden Handelsabkommen auf der Grundlage der wirklich „wichtigen“ Angelegenheiten wie der Warenpreise unterschrieben.

Was die EU machen muss, um “europäische Werte” an den Rest der Welt zu vermitteln, ist klarzustellen, dass sie Demokratie und Menschenrechte im Rest der Welt (und nicht nur daheim) höher schätzt als die niedrigen Preise importierter Güter. Außerdem sollte sie aufhören, von “europäischen” oder “westlichen” Werten zu reden, und stattdessen schlicht von “freiheitlichen” Werten der “liberalen Demokratie” und der “Menschenrechte”. Aufhören mit der Anmaßung, diese Werte würden von allen Menschen Europas oder des Westens geteilt, sowie mit der implizierten Vorstellung, die Menschen im Rest der Welt müssten erst europäisch oder westlich werden, bevor sie diese Werte teilen können!

In meinem nächsten Beitrag habe ich vor, zu besprechen, wie die europäischen oder im weiteren Sinne “westlichen” Länder dies tun könnten.

 

1Zu der -i-Endung, siehe den Beitrag „Aus halbfremden Augen“

Berichte über Borrells Gleichnis von “Garten und Dschungel”

Tim Stickings, Oct. 16, 2022, EU’s Josep Borrell under fire for calling outside world a “jungle”, The National (United Arab Emirates).

Josep Borrell, Oct. 18, 2022, On metaphors and geopolitics, HR/VP Blog.

Jorge Liboreiro, Oct. 20, 2022, Josep Borrell apologizes for controversial ‘garden’ vs. ‘jungle’ metaphor but defends speech, Euronews, Lyon.

Wachstum

In unserer heutigen Gesellschaft scheiden sich die Geister am »Wachstum«. Die einen sind dafür, wollen möglichst immer mehr davon. Allenfalls sprechen sie von »nachhaltigem Wachstum«, weil ihnen doch irgendwie bewusst ist, dass nicht alles Wachstum gut ist und folglich gutes von weniger gutem Wachstum zu unterscheiden ist. Auf der Gegenseite werden »Postwachstum« oder »Degrowth« und »Decroissance« heraufbeschworen, wir sollen endlich vom Wachstumspfad weg.

Wie stehe ich zu dieser Debatte?

Ich sage es so: Die Debatte geht völlig an Wachstum vorbei. Wir müssen klären, worüber wir eigentlich reden.

Was ist denn Wachstum?

Wachstum im Wortsinne, wie das Wachstum eines biologischen Organismus oder eines Menschen, vollzieht sich in Zyklen, zu denen auch der Tod gehört. Kein Baum wächst in den Himmel. Er fällt irgendwann, wird vom Blitz geschlagen oder von Käfern oder von einem Feuer aufgefressen. Die Reste verfaulen und werden Teil des Bodens, der wieder neues Leben hervorbringt. Wir kommen von der Erde und verfallen zu Staub. Wachstum ist Teil dieses Zyklus, es quillt hervor, bis es vergeht und Platz macht für neues Leben. Wachstum ist etwas Gutes, ohne Wachstum gibt es kein Leben und keine Weiterentwicklung. Wachstum brauchen wir, und eine Postwachstumsgesellschaft ist gar nicht möglich.

Das sogenannte Wirtschaftswachstum, das mit dem Bruttosozialprodukt (BSP) und ähnlichen Maßen des Gesamtumsatzes gemessen wird, ist allerdings kein Wachstum. Denn alles soll immer weiter wachsen, nichts wird im Kontext von Lebenszyklen gesehen. Als im Jahr 2020 weltweit wegen Covid »nur« wenig mehr (!) Flugverkehr stattfand als im nicht sonderlich krisenreichen Jahr 2003, dann wurde das schon als Katastrophe für den Flugverkehr gesehen.1 Es hängen unzählige wirtschaftliche Interessen daran, dass alles immer mehr wird, weshalb Effizienzsteigerungen die Nachfrage nach Ressourcen niemals vermindern. Zum Beispiel werden effizientere Verbrennungsmotoren in größere Wagen gebaut, die dann noch mehr Benzin verbrauchen als ihre Vorgänger.

Für unkontrolliertes Wachstum gibt es einen deutschen Begriff: Wucherung. Dieser Begriff bezieht sich auf das Wort Wucher: der Zins, der eine Geldmenge immer weiter exponentiell wachsen lassen soll, ohne Rücksicht auf natürliche und damit begrenzte Wachstumsprozesse. Alles soll einfach immer mehr werden, ohne Sinn und Verstand.

»Wucherung« bezieht sich auch auf einen »überwucherten« Garten – in dem einfach alles wachsen darf, was sich ausbreitet. Auf dem Wege hin zu einem natürlichen Ökosystem kann das sinnvoll sein, nicht aber in einem Garten, der Menschen Nahrung, Entspannung oder Freude bringen soll. In letzterem muss bewertet werden, was wachsen soll und was nicht, und wo das Wachstum aufhören soll. Auch in Wirtschaft und Politik müssen wir bewerten, was sinnvollerweise zunehmen und was abnehmen oder vergehen soll. Solche Werturteile können wir nicht umgehen, sonst gilt nur das Recht des Stärkeren. Konventionelle Definitionen des »Wachstums« vermeiden notwendige Werturteile und sind deshalb verlogen.

Hinter Definitionen des Wirtschaftswachstums verbirgt sich noch etwas anderes, nämlich Maße des Umsatzes, das heißt, wie viel Geld ausgegeben wird. Anders gesagt: es sind Maße des Aufwands, der getrieben wird. Wie viele Menschen werden angestellt zu welchem Preis, wie viele natürliche Ressourcen werden mit welchem technologischen Aufwand aus der Erde gefördert und so weiter? Je mehr Aufwand, desto mehr »Wachstum«.

Als Beispiel: wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt, dessen Ressourcenverbrauch ist begrenzt auf ganz geringen Verschleiß der Schuhe bzw. des Fahrrads, der fördert seine Gesundheit durch Bewegung des Körpers, der trägt zu keinem Straßenstau bei, der verursacht keine Luftverschmutzung, und der spart sich dabei sogar Geld (und damit Arbeitszeit) verglichen mit jemandem, der mit dem Auto fährt. Wenn der betreffende Ort halbwegs schön ist, ist der Weg zur Arbeit auch angenehm und ist Teil der Lebensqualität. Er kostet so gut wie nichts und führt zu geringen oder gar keinen Folgekosten. Folglich führt der Arbeitsweg zu keinem »Wirtschaftswachstum«. Er verbessert aber die Lebensqualität, nicht nur des einzelnen Menschen, sondern von vielen Menschen.

Mit ähnlichen weiteren Beispielen ließe sich ein Buch füllen.

Es ist zwar nützlich, Aufwand zu messen, aber immer mit Bezug auf das erzielte oder zu erwartende Ergebnis. Haben Sie viel oder wenig ausgegeben, als Sie kürzlich abends essen gegangen sind? Die Frage ist erst sinnvoll, wenn Du auch daran denkst, ob Dir das Essen geschmeckt hat und ob Dir der Abend insgesamt gefallen hat.

Eine andere Analogie: ein Maß des Aufwands ähnelt der Drehzahl eines Motors. Die soll immer in einem moderaten Bereich liegen, um zügig anzukommen, den Motor aber nicht zu ruinieren. Ob wir unser Ziel aber erreicht haben, oder ob wir uns dem Ziel überhaupt nähern, sagt uns die Drehzahl niemals. Das können wir nur feststellen, indem wir uns umschauen, wo wir sind, oder eine Landkarte oder einen Navi zu Rate ziehen.

Was wir brauchen, ist kein besseres Maß des Aufwands, den wir treiben, sondern bessere Landkarten und Navis, um unseren Weg zu finden. Diese Landkarten und Navis müssen uns in einem hochkomplexen und schwierigen Terrain weiterhelfen. Deshalb ist es mit einer einzigen Zahl analog dem BSP nicht getan.

Wir brauchen gute Maßstäbe, wie gut die Bedürfnisse der Menschen eines Landes befriedigt werden, die wir dann mit dem Aufwand an verwendeten Ressourcen in Beziehung setzen.

Wie gut die Bedürfnisse eines Menschen befriedigt werden – d.h., wie zufrieden er ist – kann ein Mensch letztlich nur über sich selbst aussagen. Folglich können wir uns bei der Messung der Zufriedenheit nicht auf Statistiken verlassen, wie viele Konsumgüter hergestellt werden, wie viele Menschen einen Schulabschluss machen und so weiter. Wir müssen die Menschen direkt befragen, wie zufrieden sie sind in verschiedenen Bereichen ihres Lebens. Zu diesem Zweck gibt es hochentwickelte, verlässliche und repräsentative Umfragemethoden. Die sind unvergleichlich viel ausgewogener als Quantifizierungen von Geldströmen, denn letztere sind Abstimmungen mit Geld, bei der reiche Leute sehr viel öfter abstimmen als arme.

Der Aufwand, der betrieben wird, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, ist vor allem daran zu messen, welche natürlichen und menschlichen Ressourcen aufgewendet werden. Auch Ressourcenaufwand kann gemessen werden, anhand jedes Jahr verbrauchter Ressourcen wie auch der Menge und Qualität der verbleibenden Ressourcen. Besonders wichtig ist es, darauf zu achten, dass erneuerbare Ressourcen nur innerhalb ihrer Regenerationsfähigkeit verwendet werden, und dass nicht erneuerbare Ressourcen auch für nachkommende Generationen erhalten bleiben.

Wie halte ich es also mit Wachstum?

Wachstum soll und muss sein – aber wir müssen ernsthaft darüber reden, was eigentlich wachsen und was schrumpfen oder vergehen soll. Wir müssen miteinander darüber sprechen, wo wir hin wollen und wie wir dort hinkommen. Dafür brauchen wir gute Landkarten und Navis, aber die Drehzahl (den Aufwand) sollten wir bitteschön in einem mittleren Bereich halten und sie nicht mit Wachstum verwechseln!

In weiteren Beiträgen werde ich mich weiter damit beschäftigen, welches Wachstum wir brauchen und welches nicht.

 

 

1 Datenquelle: International Energy Agency, World air passenger traffic evolution, 1980-2020, last updated 4 Dec. 2020, https://www.iea.org/data-and-statistics/charts/world-air-passenger-traffic-evolution-1980-2020. Originaldatenquelle ist die International Civil Aviation Organization.

Frau oder Mann

Frau- oder Mann-»Sein«

In meinem vorigen Beitrag habe ich erwähnt, dass ich den größten Teil meines Lebens als Mann gelebt habe, nun aber weitgehend als Frau lebe. Ich firmiere mit einem weiblichen Namen, nämlich Wiltrude Höschele.

»Bin« ich nun Mann oder Frau?

Dies ist eine Frage, die sehr ernst genommen wird. Sobald wir einen Menschen auf der Straße sehen, kategorisieren wir ihn als männlich oder weiblich. Die meisten Menschen ertragen es nur schwer, mit einer zu Person sprechen, ohne zu wissen, welchem Geschlecht sie angehört. An sich könnte es Ihnen/Euch, meinen Lesis, ja egal sein, ob eine Frau oder ein Mann diese Zeilen geschrieben hat. Vielleicht macht uns Unwissen in diesem Bereich auch deswegen so zu schaffen, weil wir in den europäischen Sprachkulturen kaum über jemanden reden können, ohne mittels weiblicher oder männlicher Formen sein Geschlecht zu erwähnen! Allerdings mache ich es Euch/Ihnen gerne in diesem kulturellen Kontext leichter, über mich zu reden.

Problematisch an der Frage, ob ich Frau oder Mann sei, ist die Voraussetzung, ein Mensch »sei« entweder ausschließlich Mann oder Frau. Ich »bin« Mensch und kann gar nicht anders als Mensch sein und entsprechend zu denken und zu fühlen. Diese Identität ist klar. Bei allen anderen Identitäten innerhalb der Kategorie »Mensch« sind die Grenzen allerdings weniger eindeutig. Ich kann zum Beispiel nicht hundertprozentig sagen, ich sei »deutsch«, obwohl ich mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren bin und sie niemals aufgegeben habe. Denn ich habe den größten Teil meines Lebens in anderen Ländern verbracht, bin durch meine Erfahrungen dort geprägt worden und bin deshalb in Deutschland in mancher Hinsicht fremd. Die Grenzen zwischen Ländern und Nationalitäten sind zwar real und werden rechtlich möglichst eindeutig gezogen, doch lassen sie sich überqueren und es gibt Überschneidungen und Zwischentöne.

Ich schlage vor, die Geschlechtsidentität ähnlich zu sehen wie die Zugehörigkeit zu einer Nation.

Geschlecht ist eine vielschichtige Angelegenheit. Es gibt die Schicht der biologischen Reproduktion, die bis auf die ersten sich sexuell reproduzierenden Organismen zurückgeht. Es gibt verschiedene körperliche Ebenen der weiblichen und männlichen Körper bei Säugetieren allgemein und bei Menschen im Besonderen. Es gibt Verhaltensweisen, die vorwiegend oder ausschließlich bei dem einen oder anderen menschlichen Geschlecht vorkommen. Es gibt verschiedene sexuelle Vorlieben und Verhaltensweisen. Es gibt Geschlechterrollen, die je nach menschlicher Gesellschaft vorgegeben oder auch flexibel gehandhabt werden und die sich ständig verändern. Es gibt Formen der Bekleidung, der Accessoires, des Schmucks, der Körperverzierung, die je nach Kultur geschlechtsspezifisch ausgestaltet sind. Es gibt sprachliche Formen, die Geschlecht anzeigen, in jeder Sprache etwas anders. Es gibt die gefühlte Geschlechtszugehörigkeit. Jede dieser Ebenen kann vertieft ausdifferenziert werden. Schließlich kann es Widersprüche geben zwischen verschiedenen Schichten oder Ebenen.

Diese Vielschichtigkeit wird umgangssprachlich anerkannt durch die Redeweise, »ein rechter Mann« tut dies oder unterlässt das andere. Was dies oder das andere sein soll, verändert sich dabei ständig. Einst leistete »ein rechter Mann« keine »Frauenarbeit« im Hause. Dieses Zeitalter ist hoffentlich vorbei. Doch darf heute ein »rechter Mann« mit Lippenstift oder Nagellack auftreten? Oder darf ein »rechter Mann« sich als homosexuell outen? Wer »Schwuchtel« als Schimpfwort verwendet, sieht einen Schwulen bestimmt nicht als »rechten« Mann. Wer von »rechten Männern« spricht, spricht damit aus, dass das Mann-Sein (und natürlich auch das Frau-Sein) nicht nur vom biologischen Geschlecht abhängt, sondern auch von zahlreichen, meist unklar definierten, Verhaltensweisen, Vorlieben, Denkmustern, Gefühlsregungen, Ausdrucksweisen usw. Die Ausdrucksweise »rechter Mann« ist deshalb logisch und philosophisch unvereinbar mit der Ansicht, das Mann- oder Frau-Sein hänge ausschließlich vom biologischen Geschlecht ab.

Die Rede vom »rechten Mann« impliziert natürlich eine Einstufung von »unrechten« Männern als minderwertig – minderwertig, weil sie sich auf die eine oder andere Weise wie eine Frau verhalten. Das bedeutet, dass auch Frauen als minderwertig eingestuft werden. Das verträgt sich nicht mit der Gleichberechtigung von Frauen. Als Analogie: ist eine Deutsche, die sich nach vielen Jahren in Frankreich in mancher Hinsicht so verhält, wie es in Frankreich üblich ist, keine »rechte Deutsche« mehr? Zu Zeiten nationalistischer Kriege zwischen Deutschland und Frankreich wurde so etwas sicher gesagt. Aber heute? Ich hoffe nicht. Denn wir betrachten die Menschen dieser beiden Länder als gleichwertig und den kulturellen Austausch zwischen ihnen als beiderseitige Bereicherung.

Wenn wir Frauen und Männer als gleichwertig ansehen, gibt es keinen Grund, einen Mann, der manche von Frauen gelernte Verhaltensweisen praktiziert, als minderwertig zu betrachten. Er ist ganz einfach ein Mann, der etwas von Frauen gelernt hat.

Die Vielschichtigkeit – und damit auch die Widersprüchlichkeit – des Geschlechts ist bei transidenten Personen besonders offensichtlich, tritt aber bei den meisten Menschen irgendwie auf. Jeder Mensch, der sich in überkommenen Geschlechterrollen nicht ganz wohl fühlt oder der sich manchmal wünscht, dem anderen Geschlecht zuzugehören oder etwas zu tun, das dem eigenen Geschlecht im eigenen Kulturraum normalerweise verwehrt wird, offenbart Widersprüche zwischen verschiedenen Ebenen der Geschlechtszugehörigkeit. Das ist genau so »natürlich« wie Jahrtausende alte Wünsche von Menschen, zu fliegen oder den Mond zu besuchen, mit Tieren zu sprechen, andere spirituelle Welten zu entdecken, fremde Weltgegenden zu erkunden, sich andere Sprachen anzueignen und so weiter. All diese und viele weitere Beispiele belegen, dass Menschen sich nicht immer in »natürliche« Ordnungen einfügen, sondern diese hinterfragen, herausfordern, überwinden, oder gar negieren. Grenzen zu überschreiten gehört zur Natur des Menschen.

Jemand, der Grenzen überschreitet, hat allerdings immer etwas von beiden Seiten in sich. Er ist weder der einen noch der anderen Seite vollständig zuzuordnen. Jedoch ist eine eindeutige Zuordnung für manche Zwecke wichtig. Eine Migrantin aus Syrien mit deutscher Staatsangehörigkeit ist im Sinne des Staatsangehörigkeitsrechts voll und ganz als Deutsche zu behandeln. Das hängt nicht davon ab, wie sehr sie sich weiterhin noch als Syrerin fühlt, welche Erinnerungen sie hat, welche Sprachkenntnisse sie hat und so weiter. All diese Zwischentöne sind wichtig, wenn es darum geht, sie als Mensch kennenzulernen. Doch es muss ganz klar sein, dass sie als Deutsche alle Rechte einer deutschen Staatsbürgerin in Anspruch nehmen darf.

Als Grenzgängi »bin« ich auf bestimmten Ebenen eine Frau, auf anderen »bin« ich ein Mann oder vielleicht etwas zwischen Mann und Frau, oder weder das eine noch das andere sondern ganz einfach Mensch. In den letzten Jahren habe ich aber entdeckt, dass ich nur wirklich glücklich sein kann, wenn ich mir zugestehe, dass ich mich mehr mit Frauen als mit Männern identifiziere. Deshalb möchte ich am liebsten mit Frauennamen angesprochen und mit weiblichen grammatischen Formen bezeichnet werden. Deshalb bitte ich auch Sie/Euch, meine Lesis, mich als Frau zu bezeichnen. Das kostet Euch/Sie höchstens ein bisschen Überwindung und macht mir eine Freude. Das bedeutet aber nicht, dass ich durch und durch eine Frau »bin« (genauso wenig wie die Bezeichnung »Herr« das Gegenteil bedeuten würde), sondern nur, dass das Frau-Sein in meinen gesellschaftlichen Interaktionen und in meiner schriftstellerischen Tätigkeit im Vordergrund steht.

Vielleicht hilft es Euch/Ihnen, die weibliche oder männliche Anredeform mit einem Doktortitel zu vergleichen. Wer einen Doktortitel erworben hat, darf diesen tragen als Anerkennung der dafür geleisteten Arbeit. Transidente Personen haben meist sehr viel an Lebenskraft und -willen in ihre gesellschaftliche Wandlung eingesetzt. Über eine Würdigung dieses Einsatzes durch die Wahl der Anredeformen jenes Geschlechts, dem ich mich zugehörig fühle, freue ich mich!

Halbfremd

Aus halbfremden Augen

Heute beginne ich ernsthaft mit einem neuen Blog. Es geht mir hier um eine Sicht aus halbfremden Augen, auf gesellschaftliche Themen in der heutigen Zeit des Umbruchs – in der sich herausstellen wird, ob wir kollektiv den längst fälligen Übergang schaffen von dem jetzigen hektischen Zeitalter der dauernden Beschleunigung zu einem ruhigeren, gelasseneren Zeitalter, dass die Lebenskunst pflegt.

Warum halbfremd?

Geboren wurde ich von deutschen Eltern in Deutschland. Ich besitze seit meiner Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft. Doch wirklich deutsch bin ich nicht, denn ich wuchs in Thailand, Korea und Griechenland auf und lebte den größten Teil meines Lebens in den USA. In den USA fühlte ich mich mit der Zeit immer fremder, war dort – halbfremd. Seit meinem Umzug nach Deutschland bin ich auch hier – halbfremd.

Geboren wurde ich als Junge, ich lebte den größten Teil meines Lebens als Mann, doch fühlte ich mich nie als »rechter Mann« und konnte erst glücklich werden, als ich aufhörte, mich als »Mann« zu identifizieren. Nun lebe ich so weit ich kann als Frau, doch bin ich dennoch weitgehend Mann und bin deshalb, ob als Mann oder Frau – halbfremd.

Ich habe verschiedene Fächer studiert, machte in den USA eine akademische Karriere, doch mit dem akademischen Betrieb habe ich heute wenig mehr zu tun. An Universitäten bin ich also – halbfremd.

Ich setze mich seit über 30 Jahren mit der Suche nach Wegen aus der existenziellen Krise unserer Zivilisation auseinander, stelle die Frage, wie wir eine zukünftige, überlebensfähige Gesellschaft gestalten können. Ich lebe allerdings seit meiner Geburt in der Gesellschaft, die ich kritisiere. Deshalb fühle ich mich in ihr – halbfremd.

Nun habe ich vor, aus dieser halbfremden Perspektive einen Blog zu schreiben. Ich hoffe damit, aufschlussreiche Einsichten anzubieten in einer Welt am Rande des Chaos. Vielleicht können auch Menschen aus meinen Beiträgen neue Erkenntnisse ziehen, die sich nicht fremd fühlen, oder im Gegenteil völlig fremd, oder die auf ihre ganz eigene Weise halbfremd sind.

 

Da ich in Deutschland Anfang des 21. Jahrhunderts über gesellschaftliche Themen schreibe, muss ich schon fast im ersten Satz meines ersten Beitrags eine Entscheidung treffen, die ich jetzt schon einige Absätze lang vor mir her geschoben habe: nämlich, wie ich gendern will. Es tobt ein Kulturkampf zwischen jenen, die auf korrektes Gendern bestehen mit Binnen-I oder Gendersternchen, oder mit Ansprachen an »Bürgerinnen und Bürger«, und jenen, die mit Entsetzen und Empörung aufschreien, die deutsche Sprache werde verhunzt, das generische Maskulinum beziehe sich doch auf alle Menschen, und Frauen werden durch Wörter wie »Bürger« doch auch angesprochen. Zwei Beiträge mit konträren Ansichten zu diesem Thema erschienen kürzlich im Freitag, siehe die Links unten.

Ich finde es etwas kurios, dass ein Abstraktum – die deutsche Sprache – gegen konkrete Menschen ausgespielt wird, nämlich gegen Frauen, die sich durch bestimmte sprachlichen Formen angesprochen fühlen oder eben auch nicht. Frauen kann man oder mensch oder frau nicht verordnen, sich durch männliche Formen inkludiert zu fühlen. Wenn viele Frauen sich durch männliche grammatische Formen nicht angesprochen fühlen, und viele Menschen (Frauen und Männer) gar nicht an Frauen denken, wenn sie diese Formen verwenden, dann sollten wir aufhören, mit männlichen Formen Frauen »mit zu denken«. Frauen gehören nicht »mit« gedacht, sondern ganz einfach gedacht. Alles andere bedeutet, dass Frauen nicht ernst genommen werden und ihre Bedürfnisse hintangestellt werden.

Die Sprache, die nicht verhunzt werden soll, ist allerdings nicht bloßes Abstraktum. Gelebte Sprache besteht aus unzähligen Sprech- und Schreibakten, die leicht oder schwerfällig über die Lippen kommen, die sich pedantisch oder nachlässig oder schludrig oder passend oder platt oder gebildet oder weltgewandt anhören, die umständlich oder einfach sind. Jede sprechende Person stellt Ansprüche an die eigene Sprache und an die Sprache derer, mit denen sie kommuniziert. Neue Wörter und Ausdrucksweisen können sich deshalb in einer Sprache nur durchsetzen, wenn Menschen sie bereitwillig in ihren eigenen Sprachgebrauch aufnehmen.

Gängige Formen des inklusiven Genderns haben leider ganz erhebliche Nachteile, weshalb viele Leute sie ablehnen. »Bürgerinnen und Bürger« wirkt behäbig und umständlich und verlängert Sätze, verschlimmert somit Untugenden, die besonders in der deutschen Amtssprache schon weit verbreitet sind. Das Binnen-I sowie das Gendersternchen müssen im Sprechen durch einen kurzen Stopp dargestellt werden, der sich wie ein Schluckauf anhört und den Redefluss stocken lässt. Auch beim Tippen und Lesen erscheinen diese Formen des Genderns wie ein Hindernis. Das ist weder elegant noch einfach.

Alle diese Formen des Genderns packen mehr Informationen in die Wörter. Das Sternchen soll bedeuten, dass nicht nur alle Frauen und Männer, sondern auch alle, die sich weder der einen noch der anderen Kategorie zugehörig fühlen, gemeint werden. Doch was, wenn manche Menschen sich auch durch das Sternchen nicht inkludiert fühlen? Müssen wir dann noch ein weiteres Symbol hinzufügen?

Viel einfacher ist es doch, wegzulassen. Dafür gibt es in der gegenwärtigen deutschen Sprache sogar zwei hervorragende Beispiele: Azubi und Studi. Studis sind Menschen im Studium, Azubis sind Auszubildende, egal welchen Geschlechts. Mit der Endung »-i« lassen wir einfach die leidigen Endungen weg, die zwingend die Geschlechter der Menschen anzeigen – wir müssen ja auch nicht ihre Nationalitäten, ihre Hautfarben, ihre politischen oder modischen Präferenzen erwähnen, sobald wir von ihnen sprechen. Die Begriffe »Azubi« und »Studi« haben sich in der deutschen Sprache gut etabliert, ohne große Kontroversen auszulösen. Sicher einfach deswegen, weil sie die Sprache vereinfachen.

Diese Wortschöpfungen Studi und Azubi mache ich mir nun zum Modell. »Bürgerinnen und Bürger« bezeichne ich als Bürgis. »ÄrztInnen« sind Ärztis. Mitarbeiter*innen sind Mitarbeitis. Diese Ausdrücke unterscheiden sich von »Bürger«, »Ärzte« und »Mitarbeiter« hinreichend, um zu signalisieren, dass nicht nur von Männern gesprochen wird. Sie sind aber auch nicht länger als die männlichen Formen. Sie machen die Sprache nicht umständlicher. Durch die Orientierung am Modell »Studi« dürften sie auch verständlich sein.

Es bleibt noch die Frage des Generikums im Singular. Soll es der oder die oder das Bürgi sein? Ich schlage vor, die Endung -i grammatisch neutral sein zu lassen, ähnlich wie das -lein und das -chen, Das bedeutet nichts über das biologische oder das gefühlte oder das rechtlich anerkannte Geschlecht der Person, über die ich rede, genau so wenig wie ein Kind, ein Mädchen, ein Büble oder ein Fräulein geschlechtslos, oder eine Prostata ein weiblicher, ein Busen ein männlicher Körperteil, oder eine »Person« unbedingt weiblich oder ein »Mensch« unbedingt männlich sind. Jedoch kann das grammatische Neutrum betonen, dass die geschlechtliche Identität einer Person unerwähnt geblieben ist.

Damit habe ich nun die Grundlage gelegt für mein weiteres Schreiben.

 

Karsten Krampitz, 2022, Die Linke hat ein ernstes Problem mit der Sprache, Freitag 37/2022.

Jens Kastner, 2022, Für einige Linke kaum zu glauben, aber Gendern führt nicht in den Faschismus!, Freitag, 26.9.2022.

 

P.S. 11.1.23: Ich bin inzwischen darauf hingewiesen worden, dass ein ähnlicher Vorschlag schon längst gemacht worden ist, und zwar von Hermes Phettberg, 1992, mit Endung auf -y statt -i. Davon wusste ich nichts, als ich den obigen Beitrag schrieb, fühle mich jetzt aber gestärkt darin, dass auch andere auf ähnliche Gedanken gekommen sind. Zu Phettberg siehe:

Thomas Kronschläger, 2022, Entgendern nach Phettberg, Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb.

 

Interview August 2021 Teil I: Gender-Fragen

In den letzten zwei Jahren habe ich eine Transformation durchgemacht, aufgrund derer ich mich jetzt als Frau erlebe und definiere. Über diesen Transformationsprozess haben mich im August 2021 zwei Frauen interviewt, die ich sehr schätze. Den ersten Teil dieses Interviews gebe ich hier wieder. Die Fragen in diesem Teil wurden gestellt von Jane Goldbach und behandeln Gender-Fragen. Jane Goldbach macht derzeit ihren Master in Transformationsstudien in Flensburg, und hat während ihres Ethnologie-Bachelors in Heidelberg haupt- und ehrenamtlich im TransitionHaus, einem Projekt des Transition Town Heidelberg e.V., gearbeitet. In diesem Zusammenhang haben wir uns kennengelernt.

 

Jane: Wiltrude, als ich dich kennengelernt habe, nanntest du dich Wolfgang, und heute nennst du dich Wiltrude. Erzähl doch mal, wie dein Weg von Wolfgang zu Wiltrude war, was dich dabei bewegt hat, was dich begleitet hat, was deine Anstöße waren?

W: Ja, ich hole da ein bisschen aus, manches geht in meine Kindheit zurück. Als Kind trug ich lange Haare und es störte mich nicht, wenn Leute dachten, dass ich wie ein Mädchen ausschaue. Ich spielte ziemlich viel mit Mädchen. Aber ich wäre damals nie auf die Idee gekommen, mich als Mädchen zu bezeichnen. Das waren ganz andere Zeiten damals.

Selbstdarstellung im Schul-Jahrbuch als 17-Jähriger

Beim Studium habe ich mich ziemlich viel mit Fragen des Feminismus auseinandergesetzt, habe Bekanntschaften gemacht, habe gemerkt, dass ich Frauen oft sehr viel besser verstehe als viele Männer. Zwei Studentinnen, die ich besser kennengelernt habe, erschienen mir unheimlich intelligent, wenn ich einzeln mit ihnen gesprochen habe, aber mit ihrem Freund waren die dann plötzlich dumm! Die haben sich dümmer gestellt als der Freund, damit der sich gut fühlt! So habe ich meine Erfahrungen gemacht über Gender-Angelegenheiten, und habe mich sehr viel mehr identifizieren können mit Frauen, die über feministische Themen schreiben, als mit dem gängigen Männerbild.

Alle Methoden, durch die Männer zeigen, dass sie Männer sind, erschienen mir zu zeigen, dass sie ziemlich idiotisch sind. Mit dem Männlichkeitsbild konnte ich relativ wenig anfangen. Mich interessierten auch technische Sachen eher wenig, dafür eher komplexe Beziehungen, ob das nun ökologische Beziehungen waren oder auch zwischenmenschliche Beziehungen. Das sind Interessen, die meist eher als weiblich identifiziert werden als als männlich.

Selbstdarstellung mit etwa 27 Jahren, wie ich mich als Frau vorstellte

Lange lebte ich in den USA, traf meine Lebensgefährtin Ishita, danach zogen wir nach Deutschland. Dort war ich bei Transition Town Heidelberg engagiert und habe beim Kleidertausch mitgemacht, bei der Orga und auch beim Aufräumen nach dem Kleidertausch. Bei jedem Kleidertausch sind immer mehr Kleider da als vorher. Und es sind vor allem Frauen, die da mitmachen, denn Männer interessieren sich für so etwas normalerweise nicht. Da war ich dann allein im Haus mit einer großen Menge Frauenkleider, und habe mir mal ein paar Teile anprobiert. Das war wirklich berauschend für mich, das fand ich ganz toll, diese Kleider anzuziehen! Männerkleidung fand ich einfach total langweilig, ich finde sie immer noch langweilig. Hose und Hemd, wenige Schnitte, wenige Farben. Aber wenn ich mir einen Rock oder ein Kleid anprobierte und mir das passte, dann wollte ich diese Kleider überhaupt nicht mehr ausziehen!

Das führte dazu, dass ich bald in immer mehr Kontexten angefangen habe, Frauenkleider zu tragen. Das war einfach die Art von Kleidung, die für mich richtig war! Das hat einen Prozess angestoßen, ab Anfang 2019, also inzwischen zweieinhalb Jahre. Bald habe ich fast ausschließlich Frauenkleidung getragen, also schon oft Männerhemden, aber immer zumindest einen Rock, und fühlte mich dabei unheimlich wohl.

 

Ich habe mir dann einen Frauennamen überlegt, Wiltrude. Wiltrude ist eine Kombination aus meinen Mittelnamen Rudolf und Willi. Das heißt „die Willensstarke“, also ganz schöner Name! Anfangs habe ich den nur etwas verhalten genutzt, Jane, du warst auch dabei, als wir diese Zeremonie hatten, der Namensgebung! Da hast du mich toll unterstützt, zusammen mit den anderen Frauen, die dabei waren. Später habe ich mich WoWi genannt, als Kombination von Wolfgang und Wiltrude. Vor ein paar Monaten war es dann so weit, dass ich zur Realisierung kam, eigentlich ist es doch besser, wenn Leute mich Wiltrude nennen, dann fühle ich mich wirklich gut!

Seitdem ich die Menschen in meinem Umfeld gebeten habe, mich Wiltrude zu nennen, und die das auch alle machen, sind die Depressionen, an denen ich bis dahin oft gelitten hatte, total weg! Meine Stimmung allgemein ist einfach viel besser! Deshalb gibt es da kein Zurück mehr! Deshalb bin ich jetzt Wiltrude!

J: Das ist eine richtig tolle Erfahrung, wie du das beschreibst, dass du dich von deiner Depression heilen konntest, indem du in dir etwas verändert hast. Das ist eine total berührende Geschichte!

Ich kenne es aus vielen Kontexten mittlerweile, dass man sich fragt, wie man sich bezeichnet, und welches das eigene Pronomen ist. Ist dein Pronomen „sie“, und bezeichnest du dich als nicht-binäre Person, oder was sind für dich die Begrifflichkeiten, die gut darstellen, wie du dich selber benennen möchtest?

W: Ich ziehe es schon vor, wenn ihr über mich in der weiblichen Form redet, aber das müssen nicht unbedingt alle machen. Zum Beispiel, an der Arbeitsstelle, wo ich arbeite, werde ich weiterhin als Mann bezeichnet. Da wissen alle, dass ich in Frauenkleidern herumgehe, das ist bekannt, aber ich bin da Herr Höschele bzw. Wolfgang. Das ist auch ganz in Ordnung so. Leuten, die mir nicht besonders nahe stehen, brauche ich nicht zu erklären, ich bin eigentlich Frau. Es ist einfacher denen zu sagen, ich bin ein Mann, der gerne Frauenkleider trägt. Das akzeptieren eigentlich alle.

In dem Sinne ist „nicht-binär“ ganz treffend für mich. Ich könnte das so sagen, dass ich im Inneren, oder psychisch, seelisch eine Frau bin, aber körperlich ein Mann. Das ist einfach so. Und das darf auch so bleiben. Ich muss meinen Körper nicht ändern deswegen. Ich versuche nicht, total Frau zu werden.

J: Genau, du fühlst beides in dir, oder siehst beides in dir, und möchtest beides leben.

W: Ja.

J: Wie ist es denn, wenn du dich sonst in der Öffentlichkeit bewegst, wenn du in der Straßenbahn sitzt oder spazieren gehst, erlebst du da besondere Situationen oder vielleicht auch Gespräche, die sich daraus ergeben?

W: Eigentlich selten. Manche Leute gucken mich ein bisschen länger an, vielleicht auch nur, um festzustellen, ist das ein Mann oder ist das eine Frau? Ich kann natürlich deren Gedanken nicht lesen, ich weiß nicht, was sie denken. Aber insgesamt errege ich sehr wenig Aufsehen, muss ich sagen, und da bin ich sehr zufrieden damit.

Manchmal, gerade zur Anfangszeit, als ich noch einen Schnurrbart trug, da gab es schon öfter mal Kommentare, eigentlich öfter positiv. Eine Frau, die mir beim Fußgängerüberweg zugerufen hat, sie findet es ganz toll, dass ein Mann den Mut hat, einen Rock zu tragen! Oder eine Mutter, die mit ihrem drei-oder vierjährigen Sohn hinter mir her gerannt ist. Der Sohn hat sich gar nicht getraut, mir etwas zu sagen, aber die Mutter hat für ihn gesprochen. Sie sagte, er findet es ganz toll, dass ich in der Öffentlichkeit Rock trage, denn er trägt zuhause auch Rock, aber er traut sich nicht, das in der Öffentlichkeit zu machen! Solche Reaktionen habe ich erfahren. Das war sehr erfreulich!

Ganz gelegentlich gibt es auch eine irgendwie negative Reaktion, aber in zwei Jahren hat es das vielleicht dreimal gegeben.

J: Das ist ja eine richtig schöne Geschichte, wenn du als positives Vorbild auftreten kannst und das auf der Straße zurückgemeldet wird!

Als du von deinen feministischen Zeiten oder deinen Studien erzählt hast, hast du davon gesprochen, dass es an positiven Männerbildern gefehlt hat, und dir die Frauenbilder sehr viel positiver erschienen sind. Hast du jetzt für dich neue Idole oder neue Vorbilder gefunden, weil du dich besser mit ihnen identifizieren kannst, weil du dich selber als Frau siehst und benennst?

W: Ich kann jetzt nicht unbedingt auf einzelne Personen schauen. Die Leute, die ich gelesen habe, die ich gut finde, finde ich weiterhin gut, die ganze Literatur, die ich mir angelesen habe, egal ob die nun von Frauen oder von Männern ist.

Aber es ist unbeschwerter, mich nach weiblichen Vorbildern zu richten oder nach Vorbildern, was als angebrachtes Verhalten oder als angebrachte Interessen für Frauen dargestellt wird. Ich brauche mir überhaupt keine Gedanken mehr zu machen, wird das als richtig angesehen, wenn ich das als Mann mache, weil ich ja kein Mann bin!

Allgemein denke ich, dass Männer unterfordert werden, was Beziehungsarbeit betrifft. Männer sollen sich mit Technik auseinandersetzen und mit Kontrolle und mit Anschaffen von Geld, aber mit wirklich komplexen Beziehungsgeschichten, damit brauchen sich Männer nicht zu befassen. Das wird ihnen von Frauen oft vorgeworfen, dass sie das nicht tun, aber sie werden von Kindheit aus auch nicht darauf vorbereitet, sich wirklich mit komplexen Beziehungsfragen auseinanderzusetzen.

Das sind, finde ich aber die gesellschaftlich spannenden Fragen. Wir haben mehr als genug Technik aber viel zu wenig Beschäftigung damit, wie wir besser miteinander leben können. Wie können wir uns besser gegenseitig unterstützen, damit wir alle gut leben können? Wie können wir anderen Lebewesen, anderen Arten genug Raum geben, damit sie auch leben können? All das ist komplexe Beziehungsarbeit, ob in Ökosystemen oder in menschlichen Beziehungen. Daran müssen wir alle unheimlich arbeiten. Das sind Fähigkeiten, die bisher Frauen mehr als Männern anerzogen worden sind.

J: Das finde ich superinteressant. Du hast selbst von deiner Frauwerdung als Befreiung gesprochen, ist das was du meinst, dass du dich jetzt freier fühlst, dich mit den Themen auseinanderzusetzen, die dich interessieren und die dich bewegen?

W: Ja. Ich finde dieses Männerbild einengend. Es ist sehr einfach, man kann sich eine einfache Welt erschaffen, wo man sagen wir mal einen technisch orientierten Job macht und das Geld anschafft. Wenn man mehr Geld anschafft, dann ist man erfolgreich. Gerade die technisch orientierten Arbeiten werden zumeist besser bezahlt als die, in denen es mehr um menschliche Beziehungen geht. Aber wenn das alles nicht genug ist für jemanden, dann ist dieses etablierte Bild der Männlichkeit einengend. Es ist ein Hemmschuh. Ich habe mir eigentlich immer gesagt, ich will der beste Mensch sein, der ich sein kann, und da ist Männlichkeit oder Weiblichkeit eigentlich total egal. Aber dieses Männerbild ist doch irgendwie hemmend. Deshalb ist es für mich eine Befreiung, wenn ich einfach sage, ich bin Frau, diese ganze Männlichkeit braucht mich nicht zu scheren!

J: Jetzt haben wir viel gehört, was dich ganz persönlich auf deinem Weg bewegt hat. Begreifst du das als Privatangelegenheit, als deinen ganz persönlichen Weg, Frauwerdung als Befreiung, oder möchtest du mit deinem Kleidungsstil, der ja immer auch eine Message nach außen ist, ganz bewusst nach außen kommunizieren und der Welt etwas sagen?

W: Ja, mit der Wahl der eigenen Kleidung kommuniziert jeder Mensch etwas an die anderen Menschen in der Umgebung, das geht gar nicht anders. Ich weiß natürlich nicht, was genau andere Leute lesen, aber sie können auf jeden Fall lesen, dass ich kein normaler Mann bin, sagen wir mal! Dass ich mich vielleicht mehr mit Frausein identifiziere, dass ich auf keinen Fall Angst habe, mich auf eine Weise darzustellen, die als weiblich gesehen wird. Dass ich das Weibliche auf keinen Fall als schlechter empfinde als das Männliche. Ich kommuniziere zwangsläufig sehr viel, und das will ich auch. Ich will schon anders aussehen, als ein konventioneller Mann!

J: Nun möchte ich gerne noch auf deine gesellschaftliche Vision zu sprechen kommen. Ich habe dich in deiner Arbeit zu systemischem Wandel und systemischer Beratung, und in deinem Vorschlag einer Ökonomie der Lebensfülle, als einen sehr systemisch denkenden und lösungsorientierten Menschen erlebt. Wie würdest du die Diskurse um Gender und Transgeschlechtlichkeit und Nicht-Binarität aus einer systemischen Perspektive beschreiben? Was bewegt dich daran und was würdest du dir wünschen für die zukünftige Gesellschaft?

W: Gender wird oft als „performance“ beschrieben, als eine Darstellung, dass man sich als Frau, oder als Mann oder sonst etwas darstellt, und dass man das auch lernen muss. Das heißt, Kinder müssen lernen, wie sie sich als Jungen oder Mädchen oder sonst etwas darstellen. Wie sie das letztendlich machen, da findet jeder seine eigene Lösung, in Wechselwirkung mit anderen Menschen. Das ist eine systemische Interaktion mit vielen verschiedenen Menschen. Was sich daraus ergibt, kann nie genau vorhergesagt werden, und daraus ergibt sich gesellschaftlicher Wandel. Es hat schon recht viel Veränderung gegeben innerhalb der letzten Jahrzehnte, aber da ist auch viel, das sich weiterhin wandeln muss, damit wir die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit meistern können. Was ich speziell mache, soll kein Vorbild sein für andere, sondern einfach meine spezielle Lösung, meine spezielle Gender-Bricolage. Da muss jeder Mensch seine eigene Lösung finden. Ich denke, es ist auf jeden Fall wichtig, offen zu sein gegenüber verschiedenen Lösungen, und dass es nicht eine Lösung gibt, sondern viele. Es ist wichtig, dass man experimentieren kann, damit wir in Freiheit gute Lösungen finden, die zur Lebensfülle von allen Menschen beitragen.

J: Vielen Dank für diese spannende Perspektive, und auch für die so wertvolle Vision, die du vertrittst! Ich finde das ganz berührend und ganz bewegend. Dann bedanke ich mich sehr sehr herzlich für dieses wunderbare Interview! Vielen Dank Wiltrude!

W: Vielen Dank dir!